Willy Zielke

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Willy Zielke

In Łódź geboren, Filmemacher in München, verheiratet, guter Freund von Leni Riefenstahl, 1936 Arbeit mit Riefenstahl am Olympiafilm, immer sehr unter Stress, karriereorientiert, in der Presse gelobt, Befürworter des Nationalsozialismus, Streit mit Riefenstahl, Nervenzusammenbruch, Suche nach Lösungen, freiwilliger Eintritt in Herzogsägmühle – und dann?

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Der Fall des Wanderhofbewohners Willy Zielke ist deshalb so interessant, weil er als gebildeter Mensch und Künstler in der Lage war, über sich, sein Leben und über das, was mit ihm geschah, umfassender zu reflektieren. Abgesehen von den Zeitungsartikeln, Fotos und sonstigen medialen Erwähnungen, die es über ihn gibt, ist auch seine Herzogsägmühler Akte gefüllt mit Briefen, Anträgen und sonstigen Schreiben, die einen guten Einblick in sein Denken und Fühlen ermöglichen.

Vom Filmset in den Wanderhof Herzogsägmühle

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© Willy Zielke

Sammlung Dieter Hinrichs

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Willy Zielke hinter der Filmkamera

Willy Zielke (geb. 1902 in Łódź) war ein deutsch-polnischer Fotograf und Filmemacher. Nach seiner Flucht vor kommunistischen Umwälzungen aus der Sowjetunion kam er mit seinen Eltern nach München, wo er sich an der Fachschule für Phototechnik zum Fotografen ausbilden ließ. In den frühen 1930er Jahren machte er sich mit avantgardistischen Kurzfilmen über München einen Namen. 1932/33 entstand sein erster Langfilm „Arbeitslos – ein Schicksal von Millionen“, der von der NSDAP ästhetisch und ideologisch umgestaltet wurde. Zielke willigte ein und der Film erschien unter dem neuen Titel „Die Wahrheit“, wurde aber letztlich nicht mehr öffentlich gezeigt.

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Vertiefung

Lebensweg eines Filmkünstlers im Nationalsozialismus (ausführliche Version)

Willy Zielke (geb. 1902 in Łódź) war zu Beginn des NS-Regimes Fotograf und Filmemacher in München. Als Patient mehrerer Psychiatrischen Kliniken in München, dem Schwabinger Krankenhaus, der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar und dem Sanatorium Neufriedenheim wurde er im Jahr 1937 Opfer der Zwangssterilisation. Nach einem Zwischenaufenthalt in der Zwangsfürsorgeanstalt Herzogsägmühle war er zu der Zeit der „T4-Aktion“ wieder Patient in Eglfing-Haar. Zwischen 1939 und 1942 erlebte er dort eine Atmosphäre, in der die Hungermorde möglich wurden.

Diese Erfahrungen schienen zu Beginn des NS-Regimes für ihn noch außerhalb aller Wahrscheinlichkeit. Ab dem Jahr 1933 gelang ihm, trotz einiger Rückschläge ein erfolgreicher Aufstieg als Filmemacher und Kameramann. Erst zehn Jahre zuvor war er mit seinen Eltern, sein Vater war Kaufmann und Fabrikdirektor, vor den kommunistischen Umwälzungen in der Sowjetunion geflohen. In München führte ihn dann die Ausbildung an der „Staatlichen Höheren Fachschule für Phototechnik“ als Fotograf zum Film. Dort bekam er bald eine Dozentenstelle und experimentierte mit Licht/Schatten-Kontrasten. Motive für seine ersten Kurzfilme fand er in seiner unmittelbaren Münchner Umgebung. Mit den Titeln „Anton Nicklas ein Münchner Original“ (1931) und „Willy Zielke zeigt eine Stadt – ein Film über München.“ (1932) erregte er erste Bekanntheit in der Schmalfilm-Szene. „Zielkes Arbeiten reihen sich vom ersten Moment an ein in die deutsche Avantgarde im besten Sinne.“

Mitten in der Zeit der NS-Machtübernahme fiel die Fertigstellung seines ersten Langfilmes mit dem Titel „Arbeitslos-ein Schicksal von Millionen“ (1932/33, ca. 30 Min.). Der Film entstand im Auftrag des Maffeiheimes, einer Anlaufstelle für Münchner Arbeitslose. Protagonisten waren der damals noch unbekannte Schauspieler Beppo Brehm wie auch Laiendarsteller aus dem Arbeitslosenheim. Ästhetisch setzte Zielke die Perspektivlosigkeit des einzelnen Arbeitslosen, die sich zur verzweifelten Situation einer Massenbewegung formierte („von Millionen“) nach dem Vorbild der Avantgardfilmer („Proletarische Film“) um. Der Film endete mit der verzweifelten Frage „Warum?“. Nach der Uraufführung im April 1933 interessierten sich Münchner NSDAP Funktionäre für den Film. Zielke wurde dazu aufgefordert, den Film umzugestalten. Ein neues Ende sollte der Perspektivlosigkeit der Arbeitslosen die soziale Perspektive, die das neue Regime versprach, als Lösung gegenüber stellen.

Willy Zielke erklärte sich zu dieser nationalsozialistischen Umdeutung bereit. Laut den Angaben in seiner Autobiografie ging die Initiative auf Rudolf Hess zurück, der Alarich Seidler mit dem Projekt betraute. Dieser war Sturmbannführer der SA, damals noch NSV Funktionär und sollte später mit dem Landesverband für Wander- und Heimatdienst ein Netz von Zwangsfürsorgeeinrichtungen aufbauen. Willy Zielke hatte keine Berührungsängste gegenüber der politischen Indienstnahme und hegte durchaus Sympathien für das NS-Regime wie für dessen Ideologie. Zudem erhielt er ein attraktives Honorar. Der Film trug in der veränderten Fassung nun den Titel „Die Wahrheit“. Das neue Ende als historischer Anfang: Hitler wird zum Reichskanzler ernannt, die Arbeiter finden zurück auf die Scholle und in die Fabrikhallen. Hammer und Sichel gehen in die Formation des Hakenkreuzes über. Beppo Brehm, der ein Einzelschicksal darstellte, ist nicht mehr zu sehen.

Trotz der Änderungen wurde der Film nicht mehr gezeigt. Doch Willy Zielke war nun eingeführt und ihn erreichte noch während des Umschnittes ein Folgeauftrag. Ihm wurde die Produktion des offiziellen Jubiläumsfilms zur 100-Jahr-Feier der Reichsbahn (1935-1935) engagiert. Doch auch mit diesem Auftrag scheitert Zielke letztlich. „Das Stahltier“, so der für die Ästhetik programmatische Titel, wurde am 25. Juli 1935 von der Berliner Filmprüfstelle verboten. Es lag nicht allein daran, dass der Film nicht die Erwartungen eines optimistischen Werbefilmes erfüllte. Der Film war ästhetisch zu anspruchsvoll, zu experimentell und erinnerte wohl auch zu sehr an die Ästhetik des sowjetischen Kinos von Sergej Eisenstein.

Diese Einschätzung vertritt auch der Zielke-Sachverständige Dieter Hinrichs: „Sicher stand auch die Verwendung der Stilmittel des avantgardistischen sowjetischen Films mit der Dramatik eines fauchenden Stahltiers ….im Gegensatz zu einem… erwarteten werblichen Kulturfilms, wie er dann in der Folge der NS-Zeit üblich war. … die Einstellung, in der Zielke die Kamera an das Antriebsrad der modernen Lokomotive stellte ist faszinierend und beunruhigend genug. Auch die Streckenarbeiter im Film entsprechen in keiner Weise dem Idealbild des Deutschen Arbeiters oder dem jugendlichen Ideal, wie sie in Riefenstahls Propagandafilmen … zu finden sind … geben eher einen realistischen Einblick in … ihren Alltag.“

Doch auch in diesem ersten, großen Misserfolg bot sich ein neuer Aufstieg. Riefenstahl war seit einer Probevorführung von „Stahltier“ begeistert von Zielkes Kameraästhetik und engagierte ihn für den Prolog ihres geplanten Olympiafilmes. So gelangte Zielke ins Team der Vorzeigefilmemacherin, die sich den NS-Propagandaapparat für ihre Karriere zu Nutze machte. Das bedeutete aber auch für alle Künstler in Riefenstahls Umfeld, dass es keinen Freiraum gab, der das eigene künstlerische Schaffen von NS-Ideologie und Verbrechen unbeschadet ließ. Willy Zielke bekam dies zu spüren.

Nach dem Abschluss der Dreharbeiten zum Prolog beanspruchte Riefenstahl die Regiearbeit für sich. Es kam zu einem heftigen Zerwürfnis, das einen Nervenzusammenbruch von Willy Zielke zur Folge hatte. Es war gleichzeitig seine zweite große Niederlage als Filmemacher. Zielke wurde in das Schwabinger Krankenhaus eingewiesen. Die Diagnose lautete „Schizophrenie“. Zielke erinnerte sich später an diese Situation:

„Zum ersten Mal habe ich die Gelegenheit mit einem Psychiater etwas ausführlicher zu sprechen. Immerhin eine Chance! Und ich überlege jedes Wort, damit mein Vortrag kurz und überzeugend wirkt. Es ist genau so, wie bei einem Passfoto! Hat der Fotograf die Aufnahme verwackelt, dann entstehen sogenannte doppelte Konturen. Das sieht niemals gut aus und manchmal wird das Gesicht dermassen entstellt, dass der Abgebildete wie ein Idiot aussieht. … Plötzlich greift er nach meinem Kopf und zieht mit beiden Daumen meine Augenlider auseinander. Sein Zugriff ist grob. … „Was sehen Sie?“ „Ihren Fingernagel“ (…) „Sehen Sie ein oder zwei Finger?“ „Wenn Sie so dicht heranhalten, muss ich zwei Finger sehen. Aber ich kann meine Augen extra darauf einstellen, so dass ich dann wieder einen Finger sehe. Das nennt man konvergieren, wie ich vorhin erklärt habe. … „Klarer Fall“ … „Wie soll man das verstehen?“ Frage ich wieder. Aber der Grobian beachtet mich nicht… Als er endlich draussen ist, frage ich den Pfleger. „Schissofenni“.“ (S. 152)

Nach einem kurzen Aufenthalt in Eglfing-Haar, kam er auf Betreiben seiner Familie in das Privatsanatorium Neufriedenheim. Dort erhielt er zwar eine bessere Behandlung. Allerdings entging er auch dort nicht dem bereits im Schwabinger Krankenhaus eingeleiteten Sterilisationsverfahren. Die Zwangssterilisation war Bedingung für seine spätere Entlassung. In seinen Erinnerungen ist der Tag des Zwangseingriffes, der 22.7.1937, festgehalten:

„Warte auf die Hinrichtung. Es ist eine Hinrichtung. Generationen meiner Nachkommen werden symbolisch und faktisch hingerichtet. Der Führer hat das Rassenveredelungs-Gesetz verkünden lassen. Es soll der germanische „Herrenmensch“ in Reinkultur gezüchtet werden. Alles andere sei minderwertig und soll ausgerottet werden, wie ein Abfall. ... Habe den Prolog zum Olympiafilm abgedreht und jetzt zähle ich persönlich zum Abfall der Menschheit. Meine Filmarbeit soll geistig gesund sein – ich selbst aber – geistig krank.“

Die Zitate geben den Duktus der Verzweiflung in den von Zielke erst in den Nachkriegsjahren verfassten Erinnerungen wider. Nach dem Vertrauensbruch von Riefenstahl und der Erfahrung, dass sich die von ihm idealisierten politischen Verhältnisse plötzlich gegen ihn verkehrten, sah er sich als Opfer einer Verschwörung. Dabei rang er um sein Selbstverständnis als Filmemacher. Die Erinnerungen lesen sich oft wie Szenen für Drehbuch. Doch der Konflikt mit Riefenstahl hatte nicht nur das Vertrauen in seine Filmarbeit nachhaltig erschüttert. Der Nervenzusammenbruch und die Zwangssterilisation gefährdeten auch seine Ehe und den ihm noch verbliebenen sozialen Rückhalt.

Nach der Entlassung aus Neufriedenheim kehrte er nicht zurück in die gemeinsame Wohnung. Er versuchte auch nicht beruflich, wieder Fuß zu fassen, sondern meldete sich im Oktober zum Arbeitsdienst am Autobahnbau. Dort war er nicht lange beschäftigt. Im Dezember 1937 bat er um freiwillige Aufnahme beim Wanderhof Herzogsägmühle, einer 'Fürsorgeeinrichtung' für Wanderer. Geführt wurde sie ab dem 1935 vom Landesverband für Wander- und Heimatdienst und zwar mehr als Gefängnis und Arbeitslager als zur Unterstützung der Hilfsbedürftigen. Für den Zwangscharakter verantwortlich war der bereits erwähnte SA Gefolgsmann Alarich Seidler, mit dem Zielke bei der Produktion von „Die Wahrheit“ zu tun bekam. Dass er sich ausgerechnet von Seidler Hilfe versprach, mag ein Indiz dafür sein, dass Zielke trotz seiner Zwangssterilisation nach wie vor an seiner Idealisierung der sozialen Botschaft des NS-Regimes festhielt. Als ob er sich selbst als Protagonist seines eigenen Filmes sah: Der verzweifelte Arbeitslose findet durch „entbehrungsreiche aber ehrliche“ Arbeit seine ihm gegebene Bestimmung in der NS-Gemeinschaft wieder. „Den Zwangscharakter der Fürsorgeanstalt befürwortete er in seinen Erinnerungen: Selbstverständlich werden hier auch Strolche, Säufer und allerlei Gesindel eingewiesen. Es könnten auch schuldlos gescheiterte Existenzen dabei sein. Sie werden durch eine Art von „Fronarbeit“ umerzogen und ihre Laster durch eine strenge Disziplin ausgeheilt.“ Und etwas später, als Fazit seiner ersten Erfahrungen: „ Die Demokratie, die die Intellektuellen anstreben, ist für diese Leute ein Buch mit sieben Siegeln.“

In seinen Erinnerungen stellte Zielke seinen Hilferuf allerdings als verdeckten Filmauftrag Seidlers dar, der Zielke aus dem gefährlichen Umkreis von Leni Riefenstahl bringen sollte. So ließ er Seidler sagen: „‘Auch Sie Herr Fantasin (Pseudonym für Zielke) werden eine Uniform anziehen, aber in einem anderen Sinne. Durch diese Maskierung können Sie besser beobachten, um ein wahrheitsgetreues Filmdrehbuch zu schreiben.‘ … Ich nicke nur! Zwei Seelen ruhen in meiner Brust. Die eines Filmregisseurs und die eines relativen Sträflings! Hier hat man mit der perfekten Schizophrenie zu tun. ‚Ich soll auf Befehl schizoid werden. … Was bin ich? Ein Beobachter? Ein rechtloses Subjekt? Eine unbekannte Nummer? Oder ein vornehmer Gefangener?“

Das, was er über seine Filmpläne schrieb, zeugt durchaus davon, dass er mit der Konzeption eines Drehbuches begonnen hatte, aber auch von der hoffnungslosen Lage, in der er sich befand: „Ich zeige in meinem neuen Film die Schönheit der Arbeit auf der Autobahn und im Wald. Das wäre eine künstlerische Aufgabe im Stile von Knut Hamsun. … Auch er ist freiwillig als Landstreicher in die Wildnis gegangen, um dort Anregungen für seine literarischen Einfälle an Ort und Stelle zu sammeln. … Wenn jemand so etwas tut, wie ich und freiwillig sein Haus verlässt, um zwischen Arbeitern zu leben, der gilt entweder als Asozialer, oder als Geisteskranker. Deshalb trage ich ständig bei mir das Film-Drehbuch.“ Und, an anderer Stelle: „Nun sitze ich auf meinem Baumstamm und grübele nach … die tägliche Konfrontation mit dem Volk öffnet mir andauernd die Augen. Meine schönsten Leitbilder sind zerstört.“

In der von ihm erhaltenen Insassenakte findet sich dazu kein Hinweis aber die Bestätigung, dass er um seine Aufnahme ausdrücklich gebeten hatte. So schrieb Seidler am 11.2.1938 über die Pläne von Zielke an dessen Mutter: „Er habe sich ein festes Ziel, das ihn unbedingt wieder aufwärts führe, gesteckt und er sei deshalb über seinen jetzigen Aufenthalt am Wanderhof durchaus nicht unglücklich. Er werde noch kurze Zeit hier sein und dann zum Bau der Queralpenstrasse vermittelt werden. Nach kurzer Zeit werde er dann, nachdem er Eindrücke von dieser Arbeit bekommen habe, einige Wochen Militärdienst verrichte, um dann wieder in seinem Beruf als Filmgestalter sich von den kleinsten Arbeiten an, sich emporzuarbeiten. So hoffe er in kurzer Zeit wieder in geordnete und seinem Beruf und Können entsprechende Stellung zu kommen.“

Zielke musste ohne die für seinen Zustand nötige Fürsorge erneut scheitern. Die Wehrmacht verweigerte ihm die Aufnahme. Bald kam er auch von dem zweiten Arbeitsansatz bei der Autobahnbaustelle bei Bayrischzell erschöpft und abgemagert im September 1938 nach Herzogsägmühle zurück. Er wurde entmündigt. Der zuständige Amtsarzt Dr. Weiß diagnostizierte Schizophrenie und Willy Zielke wurde Anfang 1939 wieder nach Eglfing-Haar überstellt.

Dort wurde er nach der überlieferten Krankenakte bis zum 21. August 1942 entlassen. Gründe dafür sind nicht angegeben. Nach den Erinnerungen von Zielke ging die Entlassung auf Betreiben Riefenstahls zurück, da sie ihn dringend für den Abschluss ihres letzten Filmprojekts „Tiefland“ brauchte. Er selbst begründete die Rückkehr zu Riefenstahl damit, dass die Angst, in Eglfing-Haar zu bleiben größer war als vor der Frau, die ihn seiner Karriere beraubt hatte.

Über die bedrückende Atmosphäre in Haar und wie nahe er die Morde an den Insassen zu beobachten glaubte, schrieb er „Auch hier geht die Zeit weiter, das heißt, sie kriecht wie eine Schnecke träge dahin und die Menschen bewegen sich wie durchsichtige Schatten – an vergitterten Fenstern und kahlen Wänden vorbei … was wartet auf mich? Soll hier die letzte Station für mich sein?“ und über eine Situation kurz vor seiner Entlassung: „Zuerst wird ein Grossteil der Insassen aus unserem Haus ausquartiert. Wohin diese Leute kommen, erfährt niemand von uns. Auch keiner wagt zu fragen. Nach unserer Station – das ist längst bekannt – kommt nur noch der Friedhof. Wir gelten alle als hoffnungslose Fälle – als die „Unheilbaren“. Die meisten sind verstummt. Sie führen ein Dasein von Schatten. Nur einige murmeln leise vor sich hin.“

Ein Mensch und die Probleme eines Lebens

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In einer hektischen Zeit und mit einer, heute würde man sagen Migrationsgeschichte versuchte Willy Zielke sich ein Leben und eine Karriere aufzubauen. Und er hatte größere Ansprüche an sein Wirken als Filmregisseur. Wahrscheinlich verstand er Machtübernahme der Nationalsozialisten als Chance und suchte die Nähe bekannter NS-Künstler. Er orientierte sich an avantgardistischer Kunst, konnte seine Ideen mit den Ansprüchen seiner Auftraggeber aber nicht in Übereinklang bringen. Diese wollten gut gemachte Werbefilme oder politische Propaganda. Die Erfahrung von Erfolg und Scheitern prägte Zielke. Das erhöhte den Druck auf sein Leben und sein Handeln stark.

Film "Das Stahltier" (Konzept und Regie: Willy Zielke)

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Industriefilm von Willy Zielke aus dem Jahr 1934. Auftraggeber war die Deutsche Reichsbahn. Anlass war der 100. Jahrestag der Fahrt der ersten deutschen Eisenbahn.
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Aufgabe (Basis)

Passende oder unpassende Filmästhetik im Nationalsozialismus

Zielkes Film "Das Stahltier" war ein glatter Misserfolg. Die Auftraggeber bei der Deutschen Reichsbahn waren entsetzt. Der Film wurde nicht gezeigt. Hier und hier gibt es mehr Informationen zu diesem Film.

  1. Finden Sie Gründe für den Misserfolg.
  2. In welches Licht könnte der Misserfolg Zielke in den Augen seiner Bekannten aus der nationalsozialistischen Elite gerückt haben?

Halten Sie Ihre Überlegungen auf dem Miro-Board fest.

Zerwürfnisse

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Urheber: Scherl-Bilderdienst-Olympiafilm 14.4.38

https://de.wikipedia.org/wiki/Leni_Riefenstahl#/media/Datei:Bundesarchiv_Bild_146-1988-106-29,_Leni_Riefenstahl_bei_Dreharbeiten.jpg

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Leni Riefenstahl hinter dem Kameramann Walter Frentz während der Dreharbeiten zu dem NS-Propagandafilm "Olympia" im Sommer 1936

Trotz Rückschlägen eröffnete sich für Willy Zielke eine neue Chance: Leni Riefenstahl, die im Nationalsozialismus gefeierte Regisseurin, war nach einer Probevorführung von „Stahltier“ beeindruckt von Zielkes Kamerastil. Sie holte ihn in ihr Team und beauftragte ihn mit dem Prolog ihres geplanten Olympiafilms. Riefenstahl nutzte den Propagandaapparat des NS-Regimes gezielt für ihre Karriere. Für die Kunstschaffenden in ihrem Umfeld bedeutete das allerdings, dass es keinen Raum mehr für eigenständiges Arbeiten gab – auch Zielke blieb davon nicht verschont.
Nach Abschluss der Dreharbeiten beanspruchte Riefenstahl die Regiearbeit des Prologs für sich allein. Es kam zum Zerwürfnis – für Zielke so belastend, dass er einen Nervenzusammenbruch erlitt. Damit erlebte er seine zweite große Niederlage als Filmemacher. Er wurde ins Schwabinger Krankenhaus eingewiesen, wo man bei ihm „Schizophrenie“ diagnostizierte.

Hinweis:
Der Text basiert auf der Ausarbeitung von Annette Eberle, "Willy Zielke, geboren, 1902 in Łódź und gestorben 16.6.1989 in Bad Pyrmont", Archiv Diakonie Herzogsägmühle. 

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Quelle

Zwangssterilisation: "Hinrichtung [...] symbolisch und faktisch"

„Warte auf die Hinrichtung. Es ist eine Hinrichtung. Generationen meiner Nachkommen werden symbolisch und faktisch hingerichtet. Der Führer hat das Rassenveredelungs-Gesetz verkünden lassen. Es soll der germanische „Herrenmensch“ in Reinkultur gezüchtet werden. Alles andere sei minderwertig und soll ausgerottet werden, wie ein Abfall. ... Habe den Prolog zum Olympiafilm abgedreht und jetzt zähle ich persönlich zum Abfall der Menschheit. Meine Filmarbeit soll geistig gesund sein – ich selbst aber – geistig krank.“

Zwischen Anpassung und Selbstbestimmung: Willy Zielke in Herzogsägmühle

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Nach Klinikaufenthalt und Zwangssterilisation bat Zielke im Dezember 1937 um freiwillige Aufnahme beim Wanderhof Herzogsägmühle. Dort war er in einer widersprüchlichen Situation. Er war nicht aus rassischen oder politischen Gründen oder weil er als 'asozial' galt, eingewiesen worden. Er war freiwillig gekommen, weil er dachte, dass er Hilfe für seine Probleme bekommen könnte.  Und er galt als ein anerkannter Mann. So benahm er sich auch. Da er der NS-Ideologie nicht ablehnend gegenüberstand, konnte er eine Haltung einnehmen, mit der er sich selbst als guten Volksgenossen darstellen wollte. Es muss offen bleiben, inwieweit er tatsächlich an den Nationalsozialismus glaubte oder nur ein gekonntes Schauspiel aufführte.

Jedenfalls korrespondiert er sehr vertrauensvoll zum Beispiel mit Alarich Seidler, Vinzenz Schöttl auch mit dem Arzt Dr. Weiß. Er unterzeichnete seine Briefe mit einem geschwungenen "Heil Hitler" und unterhielt sich beispielsweise mit Seidler über die Fortsetzung seiner Karriere als Regisseur. Seidler ermunterte ihn dazu, wieder ein voller Teil der NS-Gesellschaft im Bereich Film und Kultur zu werden. 

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§ Cc4

Eine Art Verteidigungsrede Zielkes für den Mitinsassen Grundler, der streng gemaßregelt wurde. Zielke empfand das als ungerecht und schwang sich auf, den Bestraften zu verteidigen. Und seine Aussagen lassen tief blicken.

§ Cc4

Eine Art Verteidigungsrede Zielkes für den Mitinsassen Grundler, der streng gemaßregelt wurde. Zielke empfand das als ungerecht und schwang sich auf, den Bestraften zu verteidigen. Und seine Aussagen lassen tief blicken.

Andererseits sahen ihn Mitglieder des einfacheren Personals in Herzogsägmühle oftmals sehr kritisch, weil er gönnerhaft agierte, mit dem Versuch, vegan zu leben, die Abläufe störte und an vielen Dinge Kritik übte. Er sah sich im Recht, Beschwerdebriefe zu schreiben, das Leid seiner "Kameraden" anzuprangern. 

Das wurde offenbar geduldet, weil Zielke innerhalb des politischen Rahmens des Regimes agierte. Er machte eben nicht die Politik für die Zustände verantwortlich. Im Gegenteil. Ihm war sicher bewusst, dass er nie wieder aus den Fängen der Anstalt herausgekommen wäre, wenn er das getan hätte. So zeigte er sich als treues Mitglied der Volksgemeinschaft und übte eine scheinbar konstruktive Kritik nach innen. Nie war das Regime verantwortlich, sondern die Unzulänglichkeit der einzelnen Mitarbeiter oder der baulichen Verhältnisse.

Immer wieder bat er auch um Entlassung und es begann immer wieder ein mitunter bizarres Ringen zwischen ihm und den für ihn 'Verantwortlichen'. Dabei verwies er dann darauf, dass er freiwillig gekommen sei und folglich auch frei entscheiden dürfe, dann er gehen wolle. Die 'Fürsorger' aber sahen das immer wieder anders, verzögerten Antworten und traten ihm nicht offen gegenüber. Versuche seiner Frau, auch unangemeldet zu Besuch zu kommen, versuchten die Mitarbeiter von Herzogsägmühle zu unterbinden. Es scheint so, dass sie dafür auch zu Ausflüchten und erlogenen Argumenten nutzten.

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Quelle

"Was bin ich?"

"Zwei Seelen ruhen in meiner Brust. Die eines Filmregisseurs und die eines relativen Sträflings! Hier hat man mit der perfekten Schizophrenie zu tun. Ich soll auf Befehl schizoid werden. … Was bin ich? Ein Beobachter? Ein rechtloses Subjekt? Eine unbekannte Nummer? Oder ein vornehmer Gefangener?“

Willy Zielke, Angst. Unveröffentlichte Autobiografie (Archiv Dieter Hinrichs, München), S. 189-190.

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Aufgabe (Basis)

Ein gutes Mitglied der "Volksgemeinschaft" werden?

Die Aussagen Zielkes über Grundler lassen tief blicken:

  1. Lesen Sie die Quelle in Element 12.
  2. Schätzen Sie ein, wie hoch die Chancen waren, in Einrichtungen wie dem Wanderhof Herzogsägmühle wirklich (wieder) ein Mitglied der "Volksgemeinschaft" zu werden.
  3. Tauschen Sie sich in der Gruppe über die Ihre Einschätzungen aus.

Ambivalenzen

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Quellen

Wegwollen und Missstände in den Worten von Willy Zielke

In einem Brief vom 22. August 1938 an die Leitung von Herzogsägmühle, verkündet Zielke, dass er den Wanderhof wieder verlassen wolle. 

  • Und so “kündige ich Ihnen zum 1. September” (LKAN Nr 3220, f. 58)
  • Und er prangert dabei auch die Missstände an. Er nennt das Unrecht. “Dieses Unrecht lege ich ganz zur Schuld der Führung der Herzogsägmühle!”
  • “Es sind nicht nur die Kameraden-Tiere, die hier misshandelt werden, sondern es sind auch die Kameraden-Menschen, die oft ein Unrecht erdulden müssen.”
  • “Aufgrund meines freiwilligen Kommens” dürfe er auch wieder gehen.

(LKAN Nr 3220, f. 58)

Am 2. September 1938 schrieb Zielke, wiederum an die Leitung:

  • “Entweder bin ich als geisteskrank erkannt, dann gehöre ich in eine entsprechende Anstalt, oder ich bin ein vollwertiger, gesunder Volksgenosse, dann gehöre ich in die Volksgemeinschaft zurück!” 
    (LKAN Nr 3220, f. 60)
  • ”’Gehen-Lernen’ erlernen! Das ist die Konsequenz unserer Arbeitsgemeinschaft! Ich bin überzeugt, dass Herr Standartenführer Seidler dies auch in seiner letzten Rede gemeint hat!” (Unterstreichungen im Original)
    (LKAN Nr 3220, f. 19)

Akte Willy Zielke, LKAN Nr 3220.

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Archiv Diakonie Herzogsägmühle, Akte Willy Zielke, LKAN Nr 3220, fol. 58.

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"Es ist eine Menschen- und Tierfeindliche Führung, die dumm ist, ausserdem!" (Akte Willy Zielke, LKAN Nr 3220, fol. 58.)

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Quelle

Kein Kriesgdienst für Willy Zielke

Am 19. Februar 1938 teilte die Wehrmacht mit, dass ein Gesuch Zielke, Kriegsdienst leisten zu dürfen, abgelehnt worden sei, weil das “nicht in Frage kommt”. Derartige Anträge von Zielke seien “zwecklos”.
(LKAN Nr 3220, fol. 8)

Der LVW teilte daraufhin dem Wehrbezirks-Kommando am 24. Februar 1938 mit:
“Zielke war darüber sehr ungehalten, weil man ihm keinerlei Gründe für diese Anordnung bekanntgeben konnte.” 
(LKAN Nr 3220, fol. 9)

Akte Willy Zielke, LKAN Nr 3220.

16

Quelle

Ein Mensch, der aneckt

Unter dem im Januar 1938 finden sich in der Akte Zielkes Korrespondenzen zwischen verschiedenen Angestellten des Wanderhofs über eine seiner Beschwerden. Er hatte sich beschwert, dass der Jäger ein erlegtes Wildtier in einen Hauseingang gelegt hatte. Daraufhin wurde eine formale Prüfung veranlasst, bei der die Mitarbeiter Stellung nehmen mussten. Dem Jäger gefiel das natürlich gar nicht. Die Prüfung ergab kein Fehlverhalten. Eine handschriftliche Notiz macht deutlich, was der Jäger von der Sache hielt: “Im übrigen halte ich Zielke für geistig nicht normal.” Eine andere Notiz zeigt, wie man Zielke für sein Verhalten bestrafen wollte: "bei nächster Gelegenheit sofort in Arbeit vermitteln (da wir nicht seine Frau auch noch erhalten müssen da Rücksprache H. Seidler”.

(LKAN Nr 3220, fol. 5)

Akte Willy Zielke, LKAN Nr 3220.

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Archiv Diakonie Herzogsägmühle

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Auszug aus einem Reformplan von Willy Zielke für Herzogsägmühle, den er während seines Aufenthalts dort entwarf.

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Archiv Diakonie Herzogsägmühle

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Auszug aus einem Reformplan von Willy Zielke für Herzogsägmühle, den er während seines Aufenthalts dort entwarf.

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Archiv Diakonie Herzogsägmühle

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Auszug aus einem Reformplan von Willy Zielke für Herzogsägmühle, den er während seines Aufenthalts dort entwarf.

Gibt es einen Ausweg in Würde?

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Archiv Diakonie Herzogsägmühle

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Schreiben von Dr. Weiß aus Herzogsägmühle an die Psychiatrische und Nervenklinik Eglfing-Haar zur Begründung einer notwendigen Einweisung von Willy Zielke (8. September 1938)

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Archiv Diakonie Herzogsägmühle

PDBYSA

Schreiben von Dr. Weiß aus Herzogsägmühle an die Psychiatrische und Nervenklinik Eglfing-Haar zur Begründung einer notwendigen Einweisung von Willy Zielke (8. September 1938)

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Aufgabe (Vertiefung)

Auf der Suche nach einem Problem

Erarbeiten Sie auf dem Miro Board:

  1. Arbeiten Sie den obigen Text durch und suchen Sie nach medizinisch belastbaren Gründen für die Einweisung Willy Zielkes in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar.
  2. Welches Problem bereitet Zielke in Herzogsägmühle?
  3. Geben Sie eine Einschätzung über die medizinisch-psychologische Qualität des Gutachtens von Dr. Weiß vom Wanderhof Herzogsägmühle ab.
  4. Leiten Sie aus dem Schreiben mögliche Gründe dafür ab, dass es aus Sicht von Dr. Weiß und einigen anderen Mitarbeitern gut gewesen sein könnte, dass Willy Zielke Herzogsägmühle verlässt.

Entkommen. Aber um welchen Preis?

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Urheber: unbekannt

PD

Riefenstahl während der Dreharbeiten zu dem Film "Tiefland" (1940)

Zielke überlebte den Nationalsozialismus. Laut der überlieferten Krankenakte wurde er am 21. August 1942 aus der Anstalt Eglfing-Haar entlassen. Die Gründe dafür sind nicht ganz klar. Nach eigener Aussagen von Zielke sorgte Leni Riefenstahl für seine Entlassung. Sie habe ihn dringend für den Abschluss ihres letzten Filmprojekts „Tiefland“ benötigt. Er selbst erklärte, dass seine Angst, in Eglfing-Haar bleiben zu müssen, größer gewesen sei als die vor der Frau, die seine Karriere zerstört hatte.

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Quelle

Willy Zielke über die Anstalt Eglfing-Haar

In seinen Aufzeichnungen beschreibt er die bedrückende Stimmung in der Anstalt Eglfing-Haar eindrücklich. Über seine Zeit dort schrieb er:
„Auch hier geht die Zeit weiter, das heißt, sie kriecht wie eine Schnecke träge dahin, und die Menschen bewegen sich wie durchsichtige Schatten – an vergitterten Fenstern und kahlen Wänden vorbei […] was wartet auf mich? Soll das hier meine letzte Station sein?“

Kurz vor seiner Entlassung schilderte Zielke die Lage so:
„Zuerst wird ein Großteil der Insassen aus unserem Haus verlegt. Wohin sie gebracht werden, erfahren wir nicht – und niemand traut sich zu fragen. Jeder weiß: Wer unsere Station verlässt, kommt meist nicht mehr zurück. Für uns gibt es nur noch den Friedhof. Wir gelten alle als hoffnungslose Fälle – als ‚Unheilbare‘. Die meisten schweigen. Sie leben wie Schatten dahin. Nur wenige murmeln noch leise vor sich hin. [...] Zuerst wird ein Grossteil der Insassen aus unserem Haus ausquartiert. Wohin diese Leute kommen, erfährt niemand von uns. Auch keiner wagt zu fragen. Nach unserer Station – das ist längst bekannt – kommt nur noch der Friedhof. Wir gelten alle als hoffnungslose Fälle – als die 'Unheilbaren'. Die meisten sind verstummt. Sie führen ein Dasein von Schatten. Nur einige murmeln leise vor sich hin.“

Willy Zielke, Angst. Unveröffentlichte Autobiografie (Archiv Dieter Hinrichs, München), S. 428. 

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Im Herbst 1945 wurde Willy Zielke auf eigenen Antrag hin wieder für mündig erklärt. Nach dem Zeiten Weltkrieg arbeitete er auch wieder als Filmemacher, vor allem im naturkundlichen und Industriefilm-Bereich. 1957 erhielt er das Filmband in Silber für die "beste Farbfilmkameraführung“ im "Schöpfung ohne Ende" aus dem Jahr 1956. Oft nutzte er das Pseudonym "Victor Valet".

Erst im Jahr 1987 erhielt er von der Bundesrepublik Deutschland eine Entschädigung in Höhe von 5.000 DM für die erlittene Zwangssterilisation. Zwei Jahre später verstarb er nahezu mittellos im Alter von 86 Jahren in Bad Pyrmont. Zielke war verheiratet und ist der Großonkel zweiten Grades der Schauspielerin Ann-Kathrin Kramer.

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Vertiefung

Recherchehinweise zu Willy Otto Zielke

Weitere Informationen über die Arbeit des Regisseurs und Fotografen Willy Zielkes gibt es zum Beispiel unter folgenden Adressen: