Ernst Lossa

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Ernst Lossa

Junge aus jenischer Familie – fahrendes Leben, wenig Geld – die Mutter früh gestorben, der Vater im KZ – getrennt von den Geschwistern – ständig neue Heime, kein Zuhause – anecken, auffallen, unruhig sein – wer sich nicht fügt, wird als „asozial“ abgestempelt.
So war das früher für viele sogenannte 'Fürsorgezöglinge'. Wer nicht passte, wurde aussortiert. Was das bedeuten kann, zeigt das Schicksal von Ernst Lossa. 

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Ernst Lossa wurde am 1. November 1929 in Augsburg geboren. Seine Familie gehörte den Jenischen an – einer europaweit verbreiteten Minderheit mit eigener Sprache und Tradition, die meist von Gelegenheitsarbeiten und fahrenden Berufen lebte. Armut prägte den Alltag: Die Lossas zogen mit einem Wohnwagen durchs Land, im Winter wohnten sie in einer einfachen Unterkunft. Der Vater handelte mit Gebrauchsgegenständen, doch das Einkommen reichte kaum zum Überleben. Staatliche Hilfe war notwendig – und wurde zugleich zum Einfallstor für behördliche Kontrolle und Diskriminierung. Schon früh traf Ernst schwere Schicksalsschläge: Zwei seiner Geschwister starben in jungen Jahren. Als Ernst knapp vier Jahre alt war, starb seine Mutter an Tuberkulose. Kurz darauf wurde der Vater in das KZ Dachau eingewiesen – offiziell wegen „Unterhaltsverweigerung“. Für Ernst bedeutete das: erneuter Verlust, nun auch des letzten verbliebenen Elternteils. Die Kinder kamen ins Heim – getrennt, in wechselnde Einrichtungen. Ernst wurde zunächst im Säuglingsheim Josefinum in Augsburg untergebracht, später im katholischen Kinderheim Augsburg-Hochzoll. Liebevolle Beziehungen oder ein stabiles Umfeld gab es in seiner Kindheit kaum.

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Das Schicksal des Vaters

Tod im KZ auf Grund von Armut

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Archiv Diakonie Herzogsägmühle

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Christian Lossa kam im Januar 1936 in das Konzentrationslager Dachau. Der Grund war, er konnte kein Geld für den Unterhalt seiner drei Kinder aufbringen, die im Kinderheim in Hochzoll untergebracht waren. Daraufhin beantragte der Ortsfürsorgeverband seine Einweisung in das Konzentrationslager: „Wir teilen mit, dass Christian Lossa wegen dauerhafter Unterhaltsverweigerung gegenüber seinen Kindern auf Antrag des Bezirksfürsorgeverbandes Augsburg-Stadt von der Polizeidirektion Augsburg am 24.1.1936 auf die Dauer eines Jahres eingewiesen wurde, und wahrscheinlich am 23.1.1937 zur Entlassung kommt.“ Doch er kam erst ein Jahr später, im Januar 1938 frei. Dass 'Fürsorgeempfänger' mit KZ Haft bestraft werden konnten, war in Bayern seit 1934 auch rechtlich geregelt. Vier Jahre später wurden Einweisungen, die von Fürsorgeämtern beantragt wurden, reichsweit über die Kriminalpolizei mit dem „Grunderlass zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ geregelt. Und dieser Grunderlass war auch die rechtliche Handhabe dafür, dass der Vater im September 1941 erneut in ein Konzentrationslager überstellt wurde, nach Flossenbürg in Ostbayern. Aus Not war er nach seiner KZ Entlassung straffällig geworden. Nach seiner Haftentlassung wurde er am selben Tag in „Vorbeugehaft“ ins KZ überstellt, wieder auf Antrag des Ortsfürsorgeverbandes. Er starb am 30.5.1942. Nach den wenigen Informationen der Lagerkommandantur an den Folgen einer Lungentuberkulose.

Ein Brief des Vaters an seinen Sohn

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Vertiefung

Stigmatisiert und ausgeliefert: Jugendliche im Netz der NS-'FĂĽrsorge'

In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die 'Fürsorge' für Kinder und Jugendliche zu einem Instrument sozialer Ausgrenzung und staatlicher Gewalt. Pädagogisches oder medizinisches Handeln war häufig nicht von 'Fürsorge' oder Hilfe geprägt, sondern von Kontrolle, Disziplinierung und Aussonderung. Kinder, die als „schwierig“, „nicht erziehbar“ oder „arbeitsunfähig“ galten, wurden stigmatisiert und in Einrichtungen verbracht, die oft mehr an Strafanstalten als an Heime erinnerten.

Anstatt individuelle Lebenslagen zu berücksichtigen oder unterstützende Maßnahmen anzubieten, folgte das NS-'Fürsorgesystem' einem ideologischen Raster: Wer nicht den Normen der „Volksgemeinschaft“ entsprach, wurde als „gemeinschaftsfremd“ oder „erblich minderwertig“ eingestuft. Diese Zuschreibungen konnten das Leben von Kindern und Jugendlichen nachhaltig zerstören – sie bedeuteten häufig die Einweisung in geschlossene Heime, sogenannte Bewahranstalten oder sogar in Heil- und Pflegeanstalten, in denen viele letztlich dem systematischen Krankenmord zum Opfer fielen.

Die Praxis der Fürsorge war damit eng mit der rassenhygienischen Ideologie des Regimes verflochten. Behörden, 'Fürsorger' und Medizinerinnen wirkten bei der „Aussonderung“ unerwünschter Kinder und Jugendlicher zusammen – sei es durch negative Gutachten, Einweisungsanträge oder das Schweigen gegenüber den Folgen der Verlegungen. So wurde aus staatlicher Hilfe ein System institutionalisierter Gewalt.

Ernst im Kinderheim in Indersdorf (1940-1942)

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Ernst Lossa lebte von Februar 1940 bis April 1942 in der 'Fürsorgeerziehungsanstalt' Indersdorf. Dort wurde er von Erziehern und Ärzten als „schwierig“ und „nicht erziehbar“ eingestuft. Die Atmosphäre war geprägt von Strafen, Kontrolle und ideologischer Bewertung. Statt Hilfe erfuhr Ernst Ausgrenzung und Abwertung – seine Persönlichkeit wurde als „gemeinschaftsgefährdend“ eingestuft, sein Verhalten pathologisiert.

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Bereits im August 1940, nur ein halbes Jahr nach seiner Einlieferung, bewertete die Psychologin Katharina Hell den 11-jährigen Ernst in einem Gutachten: 

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Aufgabe (Basis)

zum Gutachten von Katharina Hell

Arbeiten Sie im Miro-Board:

1. Lesen Sie das Gutachten und notieren Sie Begriffe oder Aussagen, die:

  • medizinisch-diagnostisch wirken (z. B. „Psychopath“, „triebhaft“, „haltlos“)

  • moralisch oder abwertend klingen

  • auf Herkunft oder „Erbgesundheit“ Bezug nehmen

2. Diskutieren Sie

  • Welche ethischen Probleme erkennen Sie im Umgang mit Ernst?

  • Wie hätte man anders handeln können?

  • Welche heutigen Pflege- oder Erziehungswerte wĂĽrden greifen?

3. Schreiben Sie einen kurzen Pflege- oder Betreuungsbericht zu Ernst aus heutiger Sicht:

  • Welche BedĂĽrfnisse, Ressourcen und Belastungen erkennen Sie?

  • Welche MaĂźnahmen wĂĽrden Sie vorschlagen?

Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren - Das Ende

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Ernst Lossa wurde am 9. August 1944 in der Kinderfachabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren ermordet – mehr als zwei Jahre nach seiner Überstellung im März 1942. Die Tötung erfolgte vermutlich nach einem Bericht der zuständigen Ärzte an den sogenannten „Reichsausschuss“, der jedoch nicht erhalten ist. Überliefert sind aber die letzten Einträge in seiner Krankenakte, deren Tonfall den negativen 'Fürsorgeberichten' ähnelt: „sittlich verdorben; Arbeitseinsatz schlug fehl“. Noch am 29. Juni 1944 schrieb der stellvertretende Anstaltsleiter, Dr. Lothar Gärtner, an das Heim in Indersdorf: „Prognostisch erscheint der Fall wenig günstig.“

Die Umstände der Tötung gehen auf die Aussage eines Pflegers zurück. Er gab an, sich geweigert zu haben, dem Jungen eine tödliche Dosis Luminal zu spritzen. Stattdessen habe die Krankenpflegerin Pauline Kneissler die Injektion verabreicht – im Beisein von Anstaltsleiter Dr. Valentin Faltlhauser und dem Arzt Dr. Frick. Auf dem Totenschein wurde als Todesursache „Bronchopneumonie“ und als Diagnose „Asozialer Psychopath“ vermerkt.

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Quelle zum Text: "Prognostisch scheint der Fall wenig gĂĽnstig"

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Quelle zum Text: Mord als Aktennotiz

Folgen der Ermordung von Ernst Lossa

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Für den Mord an dem 14-jährigen Ernst Lossa hatte niemand Verantwortung übernommen. Die Familie wurde nie über seinen Tod und wie es dazu kam, informiert. Dr. Faltlhauser wurde im Juli 1949 wegen Anstiftung zur Beihilfe zum Totschlag vor dem Schwurgericht Augsburg zu drei Jahren Haft verurteilt, er kam nie in Haft. So kam auch das Ausmaß seiner Mittäterschaft bei der Institutionalisierung von Selektion und Mord als Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren mit all seinen Auswirkungen im 'Gesundheits'- und 'Fürsorgewesen' nie zur Sprache. Nach heutigem Kenntnisstand der Forschung weiß man, dass die Organisation der Vernichtung in den Kinderfachabteilungen in der Kriegszeit erprobt werden sollte, um in der nahen angestrebten Zukunft eines gewonnenen Krieges die »Euthanasie«-Mord-Verfahren im System der Psychiatrie fest zu etablieren.

Aufarbeitung heute

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Amalie Speidel, eine der Schwestern von Ernst Lossa, wird von Michael v. Cranach, der den Mord von Ernst Lossa in Kaufbeuren erforschte, im Jahr 2012 interviewt. Sie erzählt von ihrem Leben im Heim und in der Nachkriegszeit innerhalb der Jenischen Gemeinschaft. Auch in der Familie ist nie über Ernst und ihren Vater gesprochen worden. Erst in den 1980er Jahren erfuhren sie dann von Michael v. Cranach, dem damaligen Direktor des Bezirkskrankenhauses, was mit Ernst geschehen ist. (s. Filmausschnitt aus dem Interview). Amalie Speidel starb am 3. Juni 2022. 

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Interview mit Amalie Speidel, eine der Schwestern von Ernst Lossa (2012)
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Eine Studentin der Sozialen Arbeit, die sich mit dem Interview und der Geschichte von Ernst Lossa auseinandergesetzt hat, schreibt: „Das Zeitzeugengespräch mit Fr. Speidel hat mich zutiefst bewegt und mich nochmals eindringlich daran erinnert, wie wichtig es ist, immer wieder an die Schrecken des Nationalsozialismus zu erinnern. Gerade heute, wo rechtspopulistische und rechtsextreme Kräfte in Deutschland und weltweit wieder stärker werden, muss an diese Grausamkeiten erinnert werden […] Die Erfahrungen von Zeitzeugen mahnen uns zur Wachsamkeit und zum aktiven Widerstand gegen jede Form von Faschismus, Rassismus und Ausgrenzung.

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Aufgabe (Basis)

Arbeiten Sie im Miro Board:

  • Analysieren Sie die Rolle der sog. 'FĂĽrsorgeeinrichtungen' im Fall von Ernst Lossa im Kontext der NS-Ideologie.
    Berücksichtigen Sie dabei die Bewertung, Selektion und Verlagerung sogenannter „nicht erziehbarer“ Kinder.
  • Reflektieren Sie die Verantwortung von Fachkräften in der Sozialen Arbeit im Umgang mit institutionellem Unrecht – sowohl historisch als auch in heutigen Arbeitsfeldern.

  • Entwickeln Sie eine Idee fĂĽr ein niedrigschwelliges Bildungs- oder Gedenkformat (z. B. Workshop, Projekttag, Plakataktion), das sich mit der Geschichte von Ernst Lossa auseinandersetzt und zur Sensibilisierung fĂĽr Machtmissbrauch in sozialen Einrichtungen beiträgt.

Ernst Lossa im Film – Erinnerungskultur im Medium Spielfilm

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Der Spielfilm Nebel im August verarbeitet die historische Biografie von Ernst Lossa in fiktionalisierter Form. Als Medium öffentlicher Erinnerung macht er die Thematik einem breiteren Publikum zugänglich. 

NEBEL IM AUGUST Trailer German Deutsch (2016)
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Aufgabe (Vertiefung)

1. Beschreiben Sie, welche ästhetischen Mittel (z. B. Musik, Bildwahl, Voice-over, Szenenausschnitte) im Trailer eingesetzt werden, um bestimmte Emotionen oder Erwartungen beim Publikum zu wecken.

  • Welche Stimmung entsteht?

  • Welche Botschaft wird vermittelt?

  • FĂĽr welchen Zweck erkennen Sie darin das dramaturgische Erzählen im Dienst historischer Erinnerung?


2. Formulieren Sie eine Argumentation, in der Sie folgende Fragen behandeln:

  • Welche Erwartungen an die historische Genauigkeit weckt der Trailer?

  • Wie beeinflusst die fiktionale Darstellung (z. B. Ernst als „Rebell“, dramatische Musik) Ihr historisches Verständnis?

  • Welche Chancen und Risiken ergeben sich daraus fĂĽr medienbasierte Erinnerungskultur?


3. Diskutieren Sie folgende Leitfrage: „Inwiefern kann ein Spielfilm-Trailer wie dieser dazu beitragen, dass ein breites Publikum das Thema NS-Euthanasie wahrnimmt?“

Verfolgen Sie dabei:

  • Welche Wirkung entfaltet das Medium Kino gegenĂĽber schulischer oder musealer Erinnerung?

  • Welche ethischen Herausforderungen bestehen, wenn schwere Geschichte „unterhaltsam verpackt“ wird?

  • Welche ergänzenden MaĂźnahmen (z. B. historisches Begleitmaterial, Diskussionsangebote) wĂĽrden Sie empfehlen, damit Zuschauer:innen die Tragweite verstehen?