Die nationalsozialistische 'Fürsorgepolitik' war kein neutraler Sozialstaat und garantierte für Hilfsbedürftige keinen Schutz. Vielmehr war sie ein ideologisch gesteuertes Mittel zur Ausgrenzung, Disziplinierung und Vernichtung sogenannter „Gemeinschaftsfremder“. Sie unterwarf die Sozialpolitik dem Ziel der rassenbiologischen „Volksgesundheit“. In der Praxis agierte sie als ein Instrument sozialer Ausgrenzung, rassenideologischer Selektion und staatlicher Gewalt. Sie funktionierte unter dem Deckmantel der Wohlfahrt und wurde von Verwaltung, Medizin, Polizei und Justiz gemeinsam getragen.
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NS-'Fürsorgepolitik'
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Archiv Diakonie Herzogsägmühle
Arbeitszeiteinteilung, Verkündung von Informationen, Belehrung, Bestrafung: Die Insassen wurden gezwungen, auf dem Appellplatz von Herzogsägmühle anzutreten.
Grundlagen der NS-'Fürsorgepolitik'
Grundlagen der NS-'Fürsorgepolitik'
Ideologische Grundlagen
- „Volksgemeinschaft“: Nur „erbgesunde“, „nützliche“ Deutsche sollten dazugehören.
- Rassenhygiene und Eugenik: Verhinderung „erbkranken Nachwuchses“ durch Zwangssterilisation und spätere „Euthanasie“.
- Arbeitsideologie: Wer nicht arbeitete, galt als „arbeitsscheu“ oder „gemeinschaftsunfähig“.
Strukturen und Instrumente
- Ab 1934 entscheiden sogenannte Erbgesundheitsgerichte über Zwangssterilisationen.
- Das Gesetz zur "Verhütung erbkranken Nachwuchses" (1933) bildete die Grundlage für über 400.000 Zwangssterilisationen.
- 'Fürsorgeerziehung' / 'Jugendfürsorge' waren fortan ein Instrument zur Kontrolle und Umerziehung „gefährdeter“ Jugendlicher.
- Sogenannte 'Asoziale', Bettler, Obdachlose und Alkoholiker sollten in Konzentrationslager, „Arbeitshäuser“ oder eben in Einrichtungen kommen, die in Bayern vom LVW betrieben wurden.
- Die Zusammenarbeit der 'Sozialeinrichtungen' und Verwaltungen mit Gestapo und SS hatte zur Folge, dass 'Fürsorge' zunehmend der Repression diente.
Ziele der NS-'Fürsorgepolitik'
- Selektion: Trennung zwischen „wertvollem“ und „wertlosem“ Leben
- Disziplinierung: Umerziehung durch Arbeit, Strafe und Kontrolle
- Vernichtung: Überführung vieler Betroffener in „Euthanasie“-Programme oder Konzentrationslager
Zum Umgang mit Land und Menschen in der NS-Vorstellung – Kategorisieren und Internieren
Zwangsfürsorge
Bereits im Juni 1933 stellte Reichsinnenminister Wilhelm Frick ein Programm zur Zwangsfürsorge vor, das gezielt gegen Menschen gerichtet war, die aus nationalsozialistischer Sicht als „sozial und erbbiologisch minderwertig“ galten. Betroffen waren Gruppen, die als „Minderwertige und Asoziale“ stigmatisiert wurden – darunter Menschen mit Behinderungen, psychischen Erkrankungen, sogenannte „Krüppel“, sowie Straftäter.
Auslese
Frick forderte eine systematische „Auslese und Ausmerze“, um einen angeblich drohenden Verfall der „Volksgemeinschaft“ aufzuhalten. Öffentliche Hilfen, die dem einzelnen Menschen dienten – etwa im Bereich Hygiene oder individueller 'Fürsorge' –, sollten eingestellt werden, sofern sie nicht mit den Grundsätzen der Vererbungslehre, der „Lebensauslese“ und der Rassenhygiene vereinbar waren.
Kürzungen der Gelder
Das Konzept ging weit über gewöhnliche sozialpolitische Sparmaßnahmen hinaus: In den folgenden zwölf Jahren wurden rund 70 % der ambulanten Hilfen gestrichen, die zuvor der Linderung individueller Notlagen dienten. Gleichzeitig stieg die Zahl der Zwangseinweisungen in psychiatrische Einrichtungen, 'Fürsorgeheime', Gefängnisse und Konzentrationslager drastisch an. Viele Betroffene erhielten keine medizinische Behandlung mehr, wurden gezielt unterversorgt oder fielen sogar systematischen Tötungen zum Opfer.
Hinweis:
Der Text wurde auf Grundlage der Darstellung Annette Eberle, Tödliche Gefahrenzone – Herzogsägmühle im Nationalsozialismus, in: Zeichen setzen gegen das Vergessen. Gedenkbuch für die Opfer und Verfolgten der NS-Gesndheitspolitik in Herzogsägmühle 1934-1945, hg. von der Diakonie Herzogsägmühle mit Annbete Eberle und Babette Gräper, Peiting-Herzogsägmühle o.J., S. 6-13, hier S. 7f.
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Archiv Diakonie Herzogsägmühle
Dem oben beschriebenen Schema folgend könnte ein Individuum folgendermaßen kategorisiert und 'behandelt' werden:
Quelle
Reichsinnenminister Wilhelm Frick zur Neuordung der 'Bevölkerungspolitik' (1933)
Quelle
Reichsinnenminister Wilhelm Frick zur Neuordung der 'Bevölkerungspolitik' (1933)
Dieses Programm der Zwangsfürsorge als Instrument gegen „sozial und erbbiologisch Minderwertige“ hatte Reichsinnenminister Wilhelm Frick bereits im Juni 1933 gegen alle, die als „Minderwertige und Asoziale [...] Kranke, Schwachsinnige, Geisteskranke, Krüppel und Verbrecher“ galten, angekündigt. Er forderte Maßnahmen der „Auslese und des Ausmerzens“, um den „völkischen Verfall“ aufzuhalten. Es sollten alle öffentlichen Leistungen gestrichen werden, die eine „übertriebene Personenhygiene und Fürsorge für das Einzelindividuum darstellen, ohne Rücksicht auf die Erkenntnisse der Vererbungslehre, der Lebensauslese und der Rassenhygiene.“ Das angekündigte Programm der „Auslese und Ausmerze“ ging weit über übliche sozialpolitische Sparmaßnahmen hinaus.
Hinweis: Die zitierten Passagen gehen auf eine Rede Wilhelm Fricks auf der ersten Sitzung des sog. Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik zurück, die er am 28. Juni 1933 in Berlin hielt.
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Archiv Diakonie Herzogsägmühle
Kontrolle von Wanderern (1936)
Bereits ab dem Frühjahr 1933 waren die Repressionen gegen wandernde Arme deutlich zu spüren. Sie stützten sich auf die Mitwirkung sowohl freier als auch öffentlicher Träger der 'Wanderfürsorge'. Die sogenannte Bettlerrazzia, die vom 18. bis 25. September 1933 im gesamten Deutschen Reich – und somit auch in Bayern – durchgeführt wurde, markierte den Auftakt für ein sogenanntes „geordnetes“ Wandern. Zugleich diente sie als Warnung und Einschüchterung gegenüber all jenen, die sich dem neuen Regime nicht unterordnen wollten.
Im Juni 1936 wurde die Einführung der neuen sogenannten Wanderordnung durch eine groß angelegte Bettlerrazzia in Bayern flankiert. Alle Personen, die dabei festgesetzt und den Einrichtungen des Landesfürsorgeverbandes (LVW) zugewiesen werden sollten, mussten zuvor ins Konzentrationslager Dachau. Dort unterzog man sie einer sogenannten „erkennungsdienstlichen Behandlung“. Viele ältere Bewohner von Herzogsägmühle hatten diese erniedrigende Prozedur über sich ergehen lassen müssen.
Hinweis:
Der Text wurde auf Grundlage der Darstellung Annette Eberle, Tödliche Gefahrenzone – Herzogsägmühle im Nationalsozialismus, in: Zeichen setzen gegen das Vergessen. Gedenkbuch für die Opfer und Verfolgten der NS-Gesndheitspolitik in Herzogsägmühle 1934-1945, hg. von der Diakonie Herzogsägmühle mit Annbete Eberle und Babette Gräper, Peiting-Herzogsägmühle o.J., S. 6-13, hier S. 8f.
Übersicht
Rechtliche Grundlagen der Zwangsfürsorge
Übersicht
Rechtliche Grundlagen der Zwangsfürsorge
- Die Nationalsozialisten behaupteten, es gäbe „geborene Verbrecher“. Um gegen diese vorzugehen wurde das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ geschaffen (24. November 1933)
Folgen:- Haft und Haftverlängerung
- Verhängung von „Maßnahmen der Sicherung und Besserung“ (§ 42):
- Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt für „Zurechnungsunfähige“
- Unterbringung in einem Arbeitshaus für „Dirnen, Bettler, Landstreicher, Verwahrloste und Arbeitsscheue“
- Sicherungsverwahrung in Strafanstalten der Justiz
- Bestimmungen, mit denen eine angeblich neue „Wanderordnung“ in Bayern in Kraft trat (1. April 1936):
- „Wanderverbot“: Einschränkung der Freizügigkeit: Wandern war nur noch dann erlaubt, wenn man ein von der Polizei als „wanderfähig“ anerkannt wurde und ein sogenannten „Wanderbuch“ mit vorgeschriebenen Wanderrouten bekam.
- Wer als nicht „wanderfähig“ galt oder nicht sofort in Arbeit vermittelt werden konnte, wurde nach Herzogsägmühle zur Arbeits- und Umschulung geschickt.
- „Grunderlass zur Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ (14.12.1937): Die 'Fürsorge' verlor einen größeren Teil der Menschen, für die sie zuständig waren, an die Polizei, zum Beispiel der sog. Asozialen.
- Sog. 'regionale Lösungen', wie die Asozialenverfolgung in Bayern wurden reichsweit vereinheitlicht: Jetzt wurden alle verwahrt, die durch „asoziales Verhalten die Allgemeinheit (gefährden).“ Als asoziales Verhalten galt nun fast alles, was den Nationalsozialisten aufgrund sehr oft äußerer Merkmal an Menschen nicht gefiel, was gesellschaftlich nicht ins Bild passte, als aufmüpfig gewertet wurde oder andere Lebens- und Verhaltensweisen ausdrückte. Auch, wer einfach nur aufbrausend war, konnte damit schon in Gefahr geraten.
Quelle
Was verstanden die Nationalsozialisten unter 'Asozialität'?
Quelle
Was verstanden die Nationalsozialisten unter 'Asozialität'?
„Als asozial gilt, wer durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht durch verbrecherisches Verhalten zeigt, daß er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will. Demnach sind z.B. asozial [...] Bettler, Landstreicher (Zigeuner), Dirnen, Trunksüchtige, mit ansteckenden Krankheiten, insbesondere Geschlechtskrankheiten behaftete Personen, die sich den Maßnahmen der Gesundheitsbehörden entziehen; [...] Arbeitsscheue, Arbeitsverweigerer, Trunksüchtige [...].“
Darstellung
vermeintliche "Minderwertigkeit" von Menschen vor dem Nationalsozialismus
Darstellung
vermeintliche "Minderwertigkeit" von Menschen vor dem Nationalsozialismus
Bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren krude Ansichten über die "Minderwertigkeit" bestimmter Gruppen von Menschen und daraus resultierende Maßnamen verbreitet – auch unter Politikerinnen und Politikern der sog. politischen Mitte. „So schrieb Helene Wessel, eine Jugend- und Sozialfürsorgerin und seit 1928 Mitglied des preußischen Landtages und Fachsprecherin für Fürsorgefragen der Fraktion der Deutschen Zentrumspartei, dass die gesetzliche Wohlfahrtspflege von verantwortungslosen, minderwertigen Menschen ausgenutzt würde und aus falsch verstandener Humanität unverantwortbare Kosten verursachte1 . Daraus ergäbe sich die Frage, ob neben der Sterilisation nicht weitere Maßnahmen ergriffen werden müssten, um jene biologisch minderwertigen Menschen von der Fortpflanzung auszuschließen und daran zu hindern, dass sie ihr asoziales Leben ungehemmt weiterführten. Diese „Bewahrungsbedürftigen“ seien der Fürsorge bekannt; sie belasteten in unverantwortlicher Weise das deutsche Volksvermögen und minderten als Träger gesundheitlicher, sittlicher und moralischer Schäden das deutsche Erbgut.2 Helene Wessel war später eine der Mütter des Grundgesetzes und erhielt 1965 das Bundesverdienstkreuz“.
Herzogsägmühle und die angebliche Erziehung junger Menschen
Ab 1939 rückten zunehmend auch junge Fürsorgezöglinge in den Fokus der Zwangsmaßnahmen des Landesfürsorgeverbandes (LVW). Dies entsprach dem allgemeinen Trend innerhalb der nationalsozialistischen 'Jugendfürsorge', bei hilfsbedürftigen Jugendlichen mit Maßnahmen zur Bekämpfung einer vermeintlichen „sozialbiologischen Minderwertigkeit“ zu reagieren. Immer mehr Jugendliche gerieten unter diesen Generalverdacht und wurden in 'Fürsorgeeinrichtungen' eingewiesen.
Im selben Jahr übernahm der LVW die 'Fürsorgeerziehungsanstalt' in Indersdorf bei Dachau, die zuvor von den Barmherzigen Schwestern geführt worden war – damit trat er faktisch an die Stelle der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV). Zwei Jahre später wurde in Herzogsägmühle eine eigene Abteilung für 'Fürsorgeerziehung' und ein Lehrlingsheim für bis zu 180 männliche Jugendliche ab 14 Jahren eingerichtet.
Die Einweisungsgründe – etwa Arbeitsverweigerung, Vertragsbruch, nächtliches Umherstreifen in Jugendgruppen, das Hören von Swing- oder Jazzmusik, Konflikte mit der Hitlerjugend oder einfache Disziplinprobleme – spiegeln die zunehmenden Erwartungen an Jugendliche wider, sich bedingungslos in den Dienst der „Kriegspflichten an der Heimatfront“ zu stellen.
Hinweis:
Der Text wurde auf Grundlage der Darstellung Annette Eberle, Tödliche Gefahrenzone – Herzogsägmühle im Nationalsozialismus, in: Zeichen setzen gegen das Vergessen. Gedenkbuch für die Opfer und Verfolgten der NS-Gesndheitspolitik in Herzogsägmühle 1934-1945, hg. von der Diakonie Herzogsägmühle mit Annbete Eberle und Babette Gräper, Peiting-Herzogsägmühle o.J., S. 6-13, hier S. 11.
Aufgabe (Basis)
NS-'Fürsorgepolitik'
- Erläutern Sie die NS-'Fürsorgepolitik' in einem Vortrag. Gehen Sie dabei auf
- die rechtlichen Grundlagen
- die ideologischen Überzeugungen und auf
- die NS-Vorstellungen von Umgang mit Menschen und der Gestaltung von Räumen (Element 4) ein. - Beurteilen und bewerten Sie diese Politik.
Halten Sie Ihre Überlegungen auf dem Miro-Board fest.
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Der wirtschaftliche Mechanismus hinter Einrichtungen wie Herzogsägmühle
Aufgabe (Basis)
NS-'Sozialeinrichtungen' und Geld
Beschreiben Sie auf dem Miro Board die wirtschaftlichen Hintergründe der Einrichtung in Herzogsägmühle während der Zeit des Nationalsozialismus. Beziehen Sie sich dabei auf das Schaubild (Element 13).
Vertiefung: Quelle
Buch von Alarich Seidler "Der nichtsesshafte Mensch"
Vertiefung: Quelle
Buch von Alarich Seidler "Der nichtsesshafte Mensch"
Buch von Alarich Seidler "Der nichtsesshafte Mensch"
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Vertiefung
Sozialversicherung, Kindergeld, betriebliche Maßnahmen, Steuern: Wer noch mehr wissen will über die 'Sozialpolitik'
Vertiefung
Sozialversicherung, Kindergeld, betriebliche Maßnahmen, Steuern: Wer noch mehr wissen will über die 'Sozialpolitik'
Zur 'Sozialpolitik' im Nationalsozialismus kann man sich u.a. hier weiter informieren.
'Jugendkonzentrationslager' und die 'Fürsorgeeinrichtung' Herzogsägmühle im Herrschaftsgebiet der Nationalsozialisten: Gerade junge Menschen wurden oftmals zwangsweise über hunderte Kilometer quer durch das Deutsche Reich und von ihm eroberte Gebiete verschickt.
Aufgabe (Vertiefung)
Ein Netz von Zwangseinrichtungen über das gesamte Deutsche Reich und eroberte Gebiete
In Herzogsägmühle waren Menschen, die aus Bayern, aber auch aus Sachsen oder Österreich und anderen Regionen stammten. Manchmal wurden sie auch aus Konzentrationslagern im Norden Deutschlands nach Herzogsägmühle geschickt. Welchen Sinn hatte die Überstellung von Personen über so weite Strecken aus Sicht der Nationalsozialisten?
Halten Sie Ihre Überlegungen im Miro-Board fest.