Kontinuitäten und Diskontinuitäten

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Kontinuitäten und Diskontinuitäten

Nichts gewusst haben. Alles auf die Umstände der damaligen Zeit schieben. Einfach weitermachen. Das sind wohlbekannte Muster des Verdrängens und Weiterlügens, die damals Verantwortliche nach 1945 auch nutzten, wenn es um die Geschehnisse in Herzogsägmühle während der NS-Zeit ging.
Gerade deshalb ist es heute so wichtig, sich mit den Verbrechen im Sozial-, Gesundheitsbereich auseinanderzusetzen. Opfer dürfen nicht vergessen werden, denn sie haben ein Recht darauf, gesehen zu werden. Ihr Leid muss anerkannt werden. Außerdem benötigen heutige Sozialarbeiter, Pflegekräfte, Jugend- und Wohnungslosenhelfer das Geschehen der Vergangenheit, um ihre eigenen Werte und ihre tägliche Arbeit reflektieren zu können.

Verdrängen, Lügen, Herausreden

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Mit der Behauptung, dass nicht die Insassen des Wanderhofs, sondern der Wanderhof als Institution sei Opfer des Nationalsozialismus gewesen, benutzte unter anderem Friedrich eine Sprachregelung der Täter-Opfer-Umkehr. Damit redeten sich die Täter heraus und sie setzten das Unrecht fort. Denn die Interessen der Opfer nach dem 1945 wurden damit ignoriert. Ihr Kampf um Anerkennung des ihnen widerfahrenen Unrechts und um Rehabilitation wurde dadurch erschwert. 
Zum Teil über Jahrzehnte war es ihnen nicht möglich, die verbrecherischen Urteile über sie in Führungs- und Erziehungsberichten, in amtlichen Anordnungen und Bescheinigungen aufheben zu lassen oder für die Folgen der daraus resultierenden Gewalttaten entschädigt zu werden. Es entstand ein System der angeblichen Zuständigkeits- und Verantwortungslosigkeit, bei dem sich die Täter gegenseitig deckten und ihre Hände in Unschuld wuschen. Wer aus ihrer Sicht meinte, ein Opfer gewesen zu sein, sollte sich an andere Personen und Stellen wenden, jedenfalls nicht an sie.

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Das Zitat stammt aus: Walter Strohmer über seine Zeit als 'Fürsorgezögling' in Herzogsägmühle, 1941 bis 1942, Interview, Juli 1991, Manuskript, Archiv Herzogsägmühle.

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Vertiefung

Kontext der Aussage von Friedrich Goller

„Sicher waren unter den Pfleglingen neben den Arbeitsfähigen viele sogenannte viertel und halbe Kräfte, schwachsinnige und geisteskranke Leute und dergleichen [...]. Ihre Betreuung erfolgte nicht immer im Sinne der freien Wohlfahrtspflege. Es muß aber auch bedacht werden, um welchen Personenkreis es sich handelte und welch schwierige Menschen es waren. [...] All das geschah von Alarich Seidler aus nach fürsorgerischen Gesichtspunkten.“

So äußerte sich Goller, der auch nach 1945 in Herzogsägmühle gearbeitet hatte und Leiter der Einrichtung wurde, in einer Vernehmungsniederschrift vom 1. Januar 1960. In der Vernehmung ging es um mögliche Verbindungen des LVW mit den NS-Krankenmorden.

Zit. nach: Eberle, Herzogsägmühle, S. 179 f. 

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Aufgabe (Vertiefung)

Nachwirkende Täterschaft

  1. Erläutern Sie, inwiefern es gerechtfertigt ist, von einer Fortsetzung des Unrechts auch nach Ende der NS-Herrschaft im Jahr 1945 zu sprechen. Erarbeiten Sie sich dafür Argumente aus den Elementen 1-5.
  2. Legen Sie dar, inwiefern es den Opfern bei ihrem Kampf um Anerkennung und Rehabilitation nach 1945 geholfen hatte, wenn Täter die Alarich Seidler und Friedrich Goller ihre Schuld eingestanden und zugegeben hätten, dass ihre Handlungen falsch waren und zugehörigen Beurteilungen, Anordnungen und Bescheinungen die Unwahrheit enthielten.

Halten Sie Ihre Überlegungen im Miro-Board fest.

Wie vorher weitermachen und weiterdenken

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Archiv Diakonie Herzogsägmühle

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Friedrich Goller machte nach Ende des nationalsozialistischen Gewalt- und Schreckensregimes nahezu bruchlos weiter, obwohl er ohne jeden Zweifel zu den Tätern gehörte. Nachdem die Alliierten 1945 die Macht übernommen hatten, wurde er von der Militärregierung kommissarisch als Direktor eingesetzt. Im Jahr 1946 musste er sich einem Spruchkammerverfahren über seine Taten in der NS-Zeit stellen. Dabei wurde er jedoch als "Mitläufer" eingestuft, dem keine große Schuld und Verantwortung an den Verbrechen zugeordnet wurde. Das bedeutet auch, dass er weiter in einem Sozialberuf und mit jungen Menschen arbeiten durfte. So war er zwischen 1946 und 1962 Direktor in Herzogsägmühle. Die Einrichtung stand fortan unter der Trägerschaft der Inneren Mission München.

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Archiv Diakonie Herzogsägmühle

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Zeitungsbericht zum Tod von Friedrich Goller 1964

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Aufgabe (Basis)

Wie Menschen gesehen werden können

  1. Lesen Sie den Bericht über das Leben und Wirken Friedrich Gollers, der nach seinem Tod in einer Zeitung erschien.
  2. Charakterisieren und bewerten Sie die journalistische Haltung des Interviewers.
  3. Entwerfen Sie einen 'Nachruf' auf Friedrich Goller unter Nutzung der Informationen dieses Portals. Beziehen Sie dabei insbesondere die Kapitel zu Friedrich Goller selbst und zu Ernst Lossa ein.

Kampf um die eigene Geschichte und biografische Autonomie

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Die nationalsozialistischen Verbrechen wirken für viele Angehörige der Opfer bis heute nach – selbst oder gerade dann, wenn sie das genaue Schicksal ihrer Familienmitglieder nicht kennen. Das Fehlen von Gewissheit hinterlässt eine schmerzhafte Leerstelle: Ohne klare Informationen bleibt Trauer oft unvollständig. Fragen können über Generationen hinweg quälen. Viele Nachkommen leiden an einem diffusen Gefühl von Verlust, das sich nicht abschließen lässt. Dieses Schweigen – ob durch fehlende Dokumente, verdrängte Erinnerung oder bewusstes Verschweigen in den Familien – erschwert nicht nur die individuelle Verarbeitung, sondern auch die kollektive Aufarbeitung der Geschichte. Unkenntnis schützt nicht vor der Last der Vergangenheit – sie macht sie oft noch schwerer.
Das betrifft auch viele Nachkommen von Opfern der Herzogsägmühle. Und immer noch bemühen sich deren Nachfahren um Aufklärung, suchen nach Akten oder anderen Belegen, die das Schicksal ihrer Väter oder Großväter aufhellen. Und sie betreiben auch eine öffentliche Erinnerungsarbeit, die nachfolgenden Generationen – in der eigenen Familie und darüber hinaus – verdeutlichen sollen, wie sich das Gift der NS-Ideologie auch in die Bereiche der Gesellschaft gefressen hat, die man für völlig unpolitisch halten kann. Über die damit verbundenen Gefahren müssen wir uns gerade heute wieder klar werden.

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"Und ich denk mir: Wow, jetzt hast du es geschafft!"

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Jochen Ebner über die Verschleppung seines Großvaters nach Herzogsägmühle, dessen ungeklärten Tod und die langfristigen Auswirkungen auf die Familie.
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Quelle

Der Nachfahre Jochen Ebner über die Bedeutung seiner Erinnerungsarbeit für sich und seine Familie

"Ich hatte ja überhaupt keine visuelle Vorstellung von meinem Großvater und mein Vater hatte auch keine Unterlagen darüber. Und, wenn Sie das Gefühl haben, Sie haben ein bisschen Erfolg bei dieser Recherche. Das ist ein unglaublicher Erfolgsmoment, der fast unbeschreiblich ist. Ich hatte ja die Akte von Herzogsägmühle von der Diakonie Nürnberg kommen lassen. Und als Erstes fiel das Passfoto meines Großvaters raus. Und plötzlich hatte ich ein Bild von der Geschichte. Plötzlich wird die Geschichte rund."

Interview Digitale Lernwelten (Dr. Florian Sochatzy mit Jochen Ebner) am 21. Juli 2025

Kampf der Opfer um Anerkennung und Rehabilitation und eine andere Politik

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Der Kampf der Opfer um Anerkennung führte in der Bundesrepublik beginnend in den 1960er Jahren zu umfassenderen gesellschaftlichen Protesten, die Änderungen in der Kinder- und Jugendarbeit, in der Psychiatrie und den sozialen Einrichtungen forderten.

Denn noch immer wurden Kinder zu schnell und entgegen ihrer kurz- und langfristigen Entwicklungsinteressen mit staatlicher Macht aus ihren Familien entnommen und in Heimen untergebracht. Und noch immer gab es in Einrichtungen nicht selten Ausstattungsmangel, Machtmissbrauch, eine zu geringe Einbeziehung der zu Betreuenden sowie fehlende Kontrollinstanzen. 

Stigmata wie „verwahrlost,” „asozial” oder „schwer erziehbar” wurden immer noch nicht infrage gestellt und die personelle Konstanz trugen dazu bei, dass auch in den 1950er und 1960er Jahren Menschen in Einrichtungen zum Teil zu großes Leid angetan wurde. Oftmals wurden dabei auch grundlegende Mensch- und Bürgerrechte verletzt, etwa durch geschlossene Unterbringung mit teilweise freiheitsentziehenden Maßnahmen, Unterbringung in anderen Bundesländern, Kontaktsperren, Fixierungen oder Isolationsbereiche. 

Erst das Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1991 schuf eine durchgehend neue rechtliche Grundlage für den Umgang mit jungen Hilfebedürftigen. 

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Umgang mit NS-Unrechtsopfern, insbesondere Opfern des Euthanasieprogramms

Rechtliche und gesellschaftliche Entwicklungen (Beispiele)

  • 1945/46: Aufhebungen des NS-"Gesetzes zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses" (GzVeN) 
    • aber teilweiser Fortbestand der so weit die Regelungen mit dem Grundgesetz vereinbar waren
    • Verbot von Zwangssterilisation seit 1945
    • Aufhebung von „Restbestimmungen“ erst 1974
  • 1988: Ächtung des GzVeN durch den Bundestag
  • 1990er Jahre: Aufhebung einzelner sog. Erbgesundheitsgerichtsurteile durch das Bundesverfassungsgericht
  • 1998: Bundestag hebt alle Urteile der Erbgesundheitsgerichte auf
  • 2007: Ächtung des GzVeN in seiner „Ausgestaltung und Anwendung“ als NS-Unrecht durch den Bundestag. Das GzVeN ist de iure nichtig.
  • 2011 Bundesverfassungsgericht erklärt die im Transsexuellengesetz vorgeschriebene Sterilisation für verfassungswidrig
  • Euthanasie-Geschädigte und Zwangssterilisierte werden im Bundesentschädigungsgesetz zunächst nicht durchgehend berücksichtigt. Erste Entschädigungszahlungen wurden über „Härtefallregelung“ geleistet. Nach Veränderung der Regeln erhielten einige tausend NS-Verfolgte, Sinti &Roma und Zwangssterilisierte Einmalzahlungen und kleine Renten
  • 27.01.2017: Erstmaliges Gedenken an Euthanasieopfer im Bundestag. Noch lebende Opfer waren jedoch nur „Zaungäste“ oder wurden nicht eingeladen wie z.B. Dorothea Buck 
  • 2018: Bundesarchiv macht Namen der NS-„Euthanasie“-Opfer öffentlich
  • 2024: Bundestag debattiert und billigt einstimmig(!) eine intensivere Aufarbeitung der „Euthanasie“ und Zwangssterilisierung

Florian Genath

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Diakonie Herzogsägmühle

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Aus der Ausstellung der Diakonie Herzogsägmühle über die Geschichte von Herzogsägmühle: Walter Besch, ein Opfer der "freiwlligen Fürsorgeerziehung" der 1960er Jahre berichtet.

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Quelle

Walter Besch (*1950) über seine Erfahrungen in Herzogsägmühle 1967/68: "Angst" und "Prügel"

Aber geboren ist die Angst eigentlich im Stillen schon in der Herzogsägmühle. Da wurde der Grundstein gelegt. Ja, die Gewalt. Die vielen Prügel [...]. Da war mein ganzes Tun und Handeln nur auf Flucht eingestellt. [...] ich hatte lange Haare, ja, da war ich sowieso schon mal ein Außenseiter. Und dann kam ich in das Heim. Da wollten die mir die Haare schneiden. Ich hab mich versteckt, mich im Klo eingeschlossen, und bis sie mich dann verstümmelt haben."

Bericht von Walter Besch (zitiert nach der Ausstellung in der Diakonie Herzogsägmühle).

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Quelle

Nachkriegsfürsorgeerziehung in Kontinuität: Aus einer Rede von Rolf Breitfeld über die Geschichte des Landesfürsorgeheims in Glückstadt (Schleswig-Holstein), 18. Mai 2010

„Meine Damen und Herren!

[…] Als Opfer der Fürsorgeerziehung frage ich mich noch heute: Was waren das für gewissenlose, skrupellose Menschen, die Jugendliche zur ‚Besserung‘ in ein ehemaliges KZ und Arbeitshaus gesperrt haben, in welchem es nach Kriegsende noch nicht mal
einen Personalwechsel gab. Aus KZ-Wärtern und Wachtmeistern wurden dort ‚Erzieher‘ gemacht. […] Es gab im Landesfürsorgeheim immer eine Kontinuität zur NS-Zeit, zum Arbeitshaus und zum KZ. Fürsorgezöglinge haben für die selben privaten Firmen ZWANGSARBEIT geleistet wie zuvor dort die KZ-Häftlinge und die bis Kriegsende dort untergebrachten Zwangsarbeiter. […] Die Arrestzellen waren noch im selben Zustand als hätte die Gestapo sie gerade verlassen. Ich habe  [1965/1966] noch auf Matratzen mit aufgedrucktem Reichsadler und Hakenkreuz geschlafen. Glückstadt war [von 1949 bis 1974] ein knallhart profitorientierter Wirtschaftsbetrieb. Sogenannte ‚Besserung‘ wurde einzig über ARBEITSLEISTUNG definiert. Dort wurde nicht erzogen sondern weggesperrt.“

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"Freistatt" – der Trailer eines Films, der vielfach ausgezeichnet wurde und den Umgang mit jungen Menschen in einem Kinder- und Jugendheim der Bundesrepublik in den 1960er und 70er Jahren anhand tatsächlicher Geschehnisse zeigt.
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Aufgabe (Basis)

Fortsetzung von Unrecht im Rechtsstaat. Warum?

  1. Setzen Sie sich mit Erfahrungsberichten über die Nachkriegszeit auseinander: Finden Sie Gründe dafür, dass die unangemessene Behandlung in der Fürsorge auch in der Bundesrepublik oftmals fortgesetzt wurde. Nutzen Sie dafür insbesondere die Elemente 1,2, 11.
  2. Beziehen Sie in einem zweiten Schritt auch das Kapitel "Diktatur statt Zuwendung: Menschenverachtende Mechanismen in Herzogsägmühle – eine Querschnittanalyse" ein.
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Aufgabe (Vertiefung)

Gruppendiskussion

These:
'Die 68er-Bewegung war ein notwendiger Anstoß für die Veränderung in Erziehung, Psychiatrie und Sozialarbeit. Ohne diese Bewegung hätte sich das Unrecht immer weiter fortgesetzt.'

Diskutieren Sie diese These in der Gruppe.