Sperriger Name. "Wander- und Heimatdienst" klingt für uns heute eher nach einer Dienstleistungseinrichtung für Freizeit oder Umweltschutz. Vielleicht war dieser Name aber schon in der Zeit des Nationalsozialismus als Ablenkung gedacht. Mit solchen Ablenkungen versuchen die Verantwortlichen in Diktaturen sehr oft, den wahren Zweck und Charakter einer von ihnen betriebenen Einrichtung zu verschleiern.
Gerade deshalb stellt sich also die Frage, welche Einrichtungen zu diesem Landesverband gehörten, wo sie sich befanden und welchen Zwecken sie dienten.
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Der Bayerische Landesverband für Wander- und Heimatdienst
Einrichtungen des Landesverbands
Der „Bayerische Landesverband für Wander- und Heimatdienst“ (LVW) wurde am 1. Juni 1934 als Körperschaft des öffentlichen Rechts gegründet, also schon in der frühen Phase des nationalsozialistischen Regimes. Organisatorisch war er der Gesundheitsabteilung des Bayerischen Innenministeriums unterstellt. Der Verband fungierte als zentraler Träger von Einrichtungen der sogenannten Zwangsfürsorge – ein repressives System, das Menschen, die nicht in das nationalsozialistische Ideal von „Ordnung“ und „Arbeitstüchtigkeit“ passten, ihrer Freiheit und Würde beraubte.
Ein großer Teil der Verwaltung war in der Fürsorgeanstalt Herzogsägmühle bei Peiting angesiedelt, die als zentrale Aufnahme- und Verteilungsstelle diente. Dort lagerte bis 1996 ein umfangreicher Aktenbestand mit mehr als 10.000 Personalakten – sogenannte „Insassenakten“. Ein besonders erschütternder Aktenbestand aus der NS-Zeit ist die sogenannte 'Asozialenkartei', die im Geiste der NS-Rassenhygiene nach eugenischen Kriterien geführt wurde und zahlreiche Menschen stigmatisierte, klassifizierte und dem Zugriff der Fürsorgebehörden auslieferte.
Zum Netzwerk des LVW gehörten sechs sogenannte „Wanderhöfe“, die zur Disziplinierung und Zwangsarbeit von als 'arbeitsscheu' oder 'gemeinschaftsunfähig' etikettierten Menschen dienten:
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Zentralwanderhof Herzogsägmühle (Peiting)
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Wanderhof Bischofsried (Dießen am Ammersee)
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Wanderhof Gundelfingen (Gundelfingen an der Donau)
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Wanderhof Schernau/Pfalz (Martinshöhe)
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Wanderhof Silbermühle (bei Nürnberg)
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Wanderhof Simonshof (bei Bastheim, Unterfranken)
Darüber hinaus unterhielt der Verband weitere Einrichtungen zur Isolation und „Erziehung“:
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das Jugenderziehungsheim Indersdorf (Markt Indersdorf)
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eine Tuberkulosestation in Schönram (Petting)
Diese Institutionen waren Teil eines staatlich legitimierten Kontroll- und Zwangssystems, das sich gegen Menschen richtete, die als „nicht normgerecht“ galten – oftmals auf Grundlage sozialer Herkunft, Armut, Krankheit oder nonkonformen Verhaltens. Der LVW war damit integraler Bestandteil der NS-Sozialpolitik, die Disziplinierung, Ausgrenzung und Vernichtung als Mittel zur „Volksgesundheit“ verstand.
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© Archiv Diakonie Herzogsägmühle
Bayerisches Wanderstraßen-Netz
Darstellung
Wie kam der LVW zu seinen Einrichtungen?
Darstellung
Wie kam der LVW zu seinen Einrichtungen?
Nach der Machtübernahme begannen die Nationalsozialisten systematisch, auf Vereinsbasis organisierte Sozialeinrichtungen wie den "Verein für Arbeiterkolonien in Bayern" sowie kirchliche Waisen- und Kinderheime unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Entkonfessionalisierung dieser Einrichtungen setzte Ende der 1930er Jahre ein, wurde jedoch mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs weitgehend ausgebremst. Angesichts der wachsenden Zahl von betreuungsbedürftigen Kindern und Jugendlichen konnten die bestehenden kirchlichen Heime nicht ersetzt werden. Zugleich ließ der ideologische und organisatorische Druck der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) nach, eigene Strukturen für die Familienerziehung oder ein flächendeckendes Heimsystem aufzubauen. Gleichwohl gerieten viele Einrichtungen in die direkte Verfügung von NS-Einrichtungen oder staatlicher Behörden.
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Verein für Arbeiterkolonien geht im LVW auf (1936)
Darstellung
Verein für Arbeiterkolonien geht im LVW auf (1936)
"Seit der Wirtschaftskrise 1929 suchte der in finanzielle Schwierigkeiten geratene Verein für Arbeiterkolonien einen Anschluss an größere Organisationen. So wurde auch der Landesverband für Innere Mission in Bayern als möglicher neuer Verband angefragt. Allerdings wollte der Verein seine konfessionelle Parität nicht aufgeben und lehnte 1934/35 eine 'Unterstellung' unter den 'Landesleiter' der Inneren Mission ab. Erfolgreicher waren die Versuche, sich dem Landesverband für Wehrdienst anzudienen. [...] Dennoch dauerte es noch bis zum Juni 1936, als eine formelle Schenkungsurkunde unterschrieben wurde. [...] Damit hatte sich der stark von protestantischen Vertretern dominierte Verein für Arbeiterkolonien in eine bleibende Verbindung mit dem Landesverband für Wanderdienst gebracht."
Drei Phasen in der Entwicklung des Landesverbands für Wander- und Heimatdienst
1. Phase (1936-1939):
Personalfindung, Zusammenarbeit mit staatlichen Einrichtungen (Polizei, Justiz, Gesundheits- und Sozialbehörden) etablieren und festigen. Etablierung als 'Verwahreinrichtung' für wandernde Arbeiter; später: quantitativer Rückgang der Klientel der freien Arbeitswanderer
2. Phase (1939-1943):
Ausrichtung auf die Lenkung von Arbeitskräften für den "Arbeitseinsatz"; verstärkte Einweisung Jugendlicher, die als gefährlich oder nicht linientreu galten
3. Phase (1942-1945):
Etablierung von Jugenderziehungs- und Lehrlingsheim im "Heimathof" Herzogsägmühle; Plan zur Einrichtung einer Tbc-Heilstätte seit Ende 1944, der nicht mehr vollständig realisiert wird
Hinweis:
Die Phasengliederung geht auf Annette Eberle, Herzogsägmühle in der Zeit des Nationalsozialismus, Peiting 1994, S. 126-127 zurück.
Die ersten Pläne sahen vor, das System des Landesverbands auf ganz Deutschland zu übertragen. Dies geschah aber dann nicht. Die Kehrseite war, dass oftmals Personen aus weit entfernten Regionen Deutschlands zwangsweise nach Bayern gebracht wurden und im Grunde keine Aussicht hatten, in ihr soziales oder heimatliches Umfeld zurückzukehren
Der LVW änderte im Laufe der Zeit seine Zielsetzungen. Im Jahr 1942 beispielsweise definierte Alarich Seidler eine neue "Hauptaufgabe": "Erziehung von schwer gefährdeten, jedoch gemeinschaftsfähigen Jugendlichen".
Quelle
Und was passiert mit unverbesserlichen Jugendlichen? Alarich Seidler im Jahr 1942
Quelle
Und was passiert mit unverbesserlichen Jugendlichen? Alarich Seidler im Jahr 1942
"Unverbesserliche" Jugendliche sollen nicht "unter Aufhebung der Fürsorgeerziehung entlassen werden, sondern muß auf Grund besonderer Bestimmungen in gerechter, sorgfältiger Entscheidung auf gesetzlichem Wege der geschlossenen Bewahrung auf unbestimmte Zeit zugeführt werden können."
Aufgabenwandel im LVW
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Archiv Diakonie Herzogsägmühle
Propagandabild zur Berufsausbildung junger Leute in den Einrichtungen des Bayerischen Landesverbands für Wander- und Heimatdienst
Die Aufgabenzuschreibung an die Einrichtungen des Bayerischen Landesverbands für Wander- und Heimatdienst ab 1942 durch Alarich Seidler bedeutete, dass die Verwahrung von sogenannten "einsatzunfähigen" Männern und Frauen, also z. B. Wanderarbeitern nur noch eine Nebenaufgabe sein sollte. Im Detail stellte sich Seidler die Aufgabenverteilung so vor:
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© Digitale Lernwelten GmbH
Plan für sog. Einrichtungen für die Erziehung und Berufsschulausbildung von gefährdeten und normal begabten Jugendlichen
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© Digitale Lernwelten GmbH
Plan für sog. Einrichtungen für die Erziehung und Ausbildung zum Arbeitseinsatz von gefährdeten schwach begabten Jugendlichen
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© Digitale Lernwelten GmbH
Plan für sog. Einrichtungen für Arbeitserziehung und Berufsausbildung oder Bewahrung von gefährdeten Männern und Frauen
Orte des Unrechts und der Verbrechen: Beispiel Jugenderziehungsheim Indersdorf
Das ehemalige katholische Kloster Indersdorf wurde im Sommer 1938 von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) übernommen und in eine sogenannte „NS-Jugendheimstätte“ umgewandelt. In den Akten der dort untergebrachten Kinder spiegeln sich die Folgen dieses ideologischen Umbruchs deutlich wider. Die Erziehungsberichte aus dieser Zeit sind knapp gehalten und konzentrieren sich fast ausschließlich auf die Frage der „Kameradschaft“ – also auf das reibungslose Einfügen des Einzelnen in die Gemeinschaft, im Sinne nationalsozialistischer Normvorstellungen.
Ein Beispiel für den veränderten Erziehungsansatz findet sich in einem Schreiben vom Februar 1939: Als eine Mutter darum bat, ihrem Kind zum Namenstag ein kleines Geschenk zukommen zu lassen, wurde ihr beschieden, im Heim würden lediglich Geburtstage begangen – von Geschenken müsse man „aus Gründen der Gerechtigkeit“ absehen. Hinter dieser Argumentation zeigt sich auch die antikonfessionelle Ausrichtung des NS-Heimsystems, die in solchen Verwaltungsakten zwar nur am Rande sichtbar wird, jedoch tiefgreifende ideologische Auswirkungen hatte.
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Anna Andlauer
Jugenderziehungsheim Kloster Indersdorf (Ansichtskarte aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs)
Darstellung und Quelle
„Bürschlein“ – „Willensschwäche" – „Haltlosigkeit“
Darstellung und Quelle
„Bürschlein“ – „Willensschwäche" – „Haltlosigkeit“
So hieß es beispielsweise in einem Bericht vom Januar 1939 über einen elfeinhalbjährigen Jungen, er sei zwar ein aufgeweckter Schüler, aber ein „weiches Bürschlein“. „Es könnte diese gewisse Willensschwäche zusammen mit seiner Unbeschwertheit später zur Haltlosigkeit führen, deshalb erscheint der Aufenthalt im Heim, das eine Disciplinierung des Willens fordert bei A., gegenüber seinen früheren Milieu sehr günstig und es ist zu hoffen, dass A. seine Fähigkeiten später noch in nützlicher Weise auswerten wird“. Er passe sich zwar in die Gruppe ein, entwickele aber noch keinen besonderen „Kameradschaftsgeist“ Die sich hierin spiegelnde Übertragung einer nicht altersgerechten Verhaltensnorm auf ein zwölfjähriges Kind mag erklären, dass das Heim Indersdorf im Mai 1939 bereits alle vorschulpflichtigen Kinder entlassen musste.
Die Umstände der Übernahme des Heimes Indersdorf durch den LVW von der NSV im Jahre 1939 sind aufgrund der vorliegenden Quellen nicht genau rekonstruierbar. Es heißt, dass die Einrichtung heruntergewirtschaftet gewesen sei und der LVW sie am 1. Juli 1939 übernommen habe, „wobei das gesamte Personal aus besonderen Gründen entfernt werden mußte.“ Der beginnende Krieg brachte eine zusätzliche Erschwerung hinsichtlich der Gewinnung von neuem Personal. Insbesondere die Leitung der Einrichtung mit Schule, einer Landwirtschaft und rund 240 Plätzen für Jungen und Mädchen im Alter von 6 bis 16 Jahren blieb zunächst unbesetzt. Schließlich übernahm Friedrich Goller die Leitung.
Hinweis:
Uwe Kaminsky, Kontinuität und Diskontinuität in der Sozialen Arbeit, hg. von der Diakonie Herzogsägmühle, Peiting 2021, S. 49.
Darstellung
Indersdorf im propagandistischen Selbstbild
Darstellung
Indersdorf im propagandistischen Selbstbild
- "lebensnahe, heimatverbundene Erziehung des gefährdeten oder verwahrlosten Kindes"
- "Vorbereitung auf das Berufsleben"
- "auch dem anlagebelasteten oder umweltgeschädigten Kind zu einer sinnvollen und dem Ganzen dienenden Lebensmöglichkeit"
- "körperlicher und sportlicher Ertüchtigung"
- "sorgfältige Körperpflege unter ständiger ärztlicher Überwachung"
- "Kameradschaftserziehung in kleineren Erziehungsgruppen, die von heilpädagogisch geschulten Erziehern und Erzieherinnen geführt" werden
- "Selbsterziehung"
- "Gegenseitigkeitserziehung"
- "Einfügung in die Gliederungen der HJ"
- "familienhafte Ausgestaltung des Lebens der Gruppe"
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Indersdorf in der Realität: Aus den Erziehungsberichten
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Indersdorf in der Realität: Aus den Erziehungsberichten
"In den Eintragungen [in den Unterlagen über die Insassen/Zöglinge] entfaltete sich eine Berichtsprosa, die sich in zeitgenössischen Wertungen von 'Kameradschaft', 'Haltung', 'Stärke' oder 'Schwäche' erging. [...] Auffällig ist, dass es kaum einen Bericht gibt, der ausnahmslos 'gute Führung', 'Gehorsam' oder auch Anpassung allein positiv würdigt. Selbst bei einem 14-jährigen Mädchen, zu dem es hieß, man könne 'sie wirklich als eines der besten und sehr zuverlässigen Mädchen bezeichnen', müsste noch ihre 'innere Unausgeglichenheit überwunden' und eine dauernde Verbindung und Nachsorge gewährleistet werden. Besonders die Verbindung zur Mutter müsse unterbunden werden. Dies verweist auf eine Legitimationsnotwendigkeit, der das Heim in diesen Berichten unterlag. Dies war strukturell vorgegeben, da ansonsten der Heimaufenthalt an sich in Zweifel gestellt gewesen wäre. Die Erziehenden hatten außer über den möglichen Fortschritt der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen auch über die Notwendigkeit einer weiteren Anstaltserziehung bzw. anderweitigen Betreuung nach der Schulentlassung zu berichten. Die Art und Weise, in der das geschah, hatte einen stark abwertenden Ton."
Herzogsägmühle in der Realität
"Straf- und Zwangscharakter"
Herzogsägmühle in der Realität
"Straf- und Zwangscharakter"
In der Einrichtung Herzogsägmühle herrschte eine Atmosphäre, die durch "militärischen Kommandoton und rabiates Befehlsgehabe, das sich vor allem gegen die Schwachen richtete", bestimmt war. Der von früh bis spät reglementierte Alltag unterstrich den Straf- und Zwangscharakter des Aufenthalts. Prügel und Einweisungen ins Konzentrationslager sind nachweisbar. Es herrschte eine hierarchisierte Ernährung, bei der die Leistungsfähigen mehr erhielten und die anderen um ihr Überleben kämpfen mussten.
Die "weißen Särge" von Indersdorf
Verbrechen an Kleinkindern
Die "weißen Särge" von Indersdorf
Verbrechen an Kleinkindern
In Indersdorf geschahen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges immer schrecklichere Verbrechen. So wurde u.a. im letzten Kriegsjahr eine Holzbaracke als Verwahrstätte für Neugeborene von Zwangsarbeiterinnen errichtet. Die Baracke war ein Sterbeort: Hier wurden Neugeborene von Zwangsarbeiterinnen untergebracht – isoliert, unterversorgt, dem Tod überlassen. Die Grundlage bildete ein Erlass von Heinrich Himmler. Darin legte er fest, dass die Kinder ausländischer Arbeiterinnen unmittelbar nach der Geburt ihren Müttern zu entziehen und in sogenannte „Ausländerkinder-Pflegestätten“ zu überstellen seien – ein beschönigender Begriff für systematische Vernachlässigung. Die Mütter wurden zur Arbeit auf Höfen oder in Betrieben gezwungen. Viele flehten darum, ihre Kinder behalten zu dürfen, sahen sie jedoch oftmals nie wieder. In Indersdorf überlebte fast keines dieser Kinder: Mindestens 35 Säuglinge starben in der Baracke. Sie verhungerten, erkrankten, vereinsamten. Der Ort war kein Heim – er war ein staatlich organisierter Ort des befohlenen Vergessens und Sterbens.
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Aufgabe (Vertiefung)
Zum Mord an den Kleinkindern in Indersdorf kann man keine analytische Frage stellen. Wir können es jedenfalls nicht. Sprechen Sie bei Bedarf darüber und gehen Sie dabei von Ihren Gefühlen aus.