Sie kamen und gingen. Mal blieben sie nur einen Tag, manchmal eine Woche. Sie halfen auf dem Feld, im Wald oder auf dem Bau: für wenig Geld, oft gegen Essen und Schlafplatz. Sie lebten am Rand der Gesellschaft. Viele sahen sie als nötig, aber nie als zugehörig. Mit der Zeit wurden sie beobachtet, beurteilt, verwaltet und schließlich ausgegrenzt. Ein Wandel, der am Ende nicht nur über ihre Arbeit, sondern über ihren Wert als Mensch entschied.
§
© Digitale Lernwelten GmbH
Tagelöhner und Wanderarbeiter als soziales Phänomen
Allgemeines über Tagelöhner und Wanderarbeiter
| Tagelöhner | Wanderarbeiter |
|---|---|
| "[Land]arbeiter im Tagelohn" | "[Saison]arbeiter, der seinen Arbeitsplatz weit entfernt von seinem Wohnort aufsuchen muss" |
Damalige Ansicht im Kaiserreich, der Weimarer Republik und der NS-Zeit
Damalige Ansicht im Kaiserreich, der Weimarer Republik und der NS-Zeit
„Tagelöhner und Herumtreiber ohne festen Wohnsitz stellen ein wachsendes Problem dar. Ihre Arbeitsbereitschaft ist zweifelhaft, ihr Lebenswandel unstet - vielfach meiden sie geregelte Beschäftigung und entziehen sich der gesellschaftlichen Ordnung.“
„Obdachlose, Wanderarbeiter und Tagelöhner gelten zunehmend als sozial auffällig. Ihre Lebensweise wird von den Wohlfahrtsämtern genau beobachtet, da sie als gefährdet oder arbeitsscheu eingestuft werden und häufig in moralisch fragwürdige Verhältnisse geraten.“
„Vorarbeiten für den Erlaß eines Reichsgesetzes zur Regelung der Wandererfürsorge und eines Reichsgesetzes zur Bewahrung verwahrloster und gemeinschädlicher Personen (Frankfurt/M., 31. Juli 1933)"
„Als Arbeitsscheue, Gewohnheitsbettler, Landstreicher, Trinker, Rauschgiftsüchtige und Prostituierte sind sie Parasiten an unserem Volkskörper. Statt nützliche Arbeit zu leisten, leben sie auf Kosten der Gesamtheit und verursachen einen außerordentlich hohen Fürsorgeaufwand“
nach Ayaz, W., "Gemeinschaftsfremde". Quellen zur Verfolgung von "Asozialen" 1933-1945, (Materialien aus dem Bundesarchiv, Bd. 5), Koblenz 1998.
Aufgabe
1. Lesen Sie sich die Ansichten aus den verschiedenen Epochen durch und schildern Sie Ihren ersten Eindruck.
2. Ordnen Sie danach die Definitionen den Epochen zu.
Obdachlosigkeit im Laufe der Geschichte
§
Urheber: Bundesarchiv
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5415128
Mit der Industrialisierung und der Ausbreitung der Lohnarbeit ohne soziale Absicherung stieg die Zahl der obdachlosen Menschen im 19. Jahrhundert stark an – teils war sie höher als nach dem Zweiten Weltkrieg. Betroffen waren insbesondere arbeitslose Männer, entlassene Dienstmädchen und ganze Familien, die ihre Wohnungen verloren und keine bezahlbaren Kleinwohnungen fanden.
Obdachlose galten nicht nur als arm, sondern oft auch als „moralisch minderwertig". Dabei wurden alleinstehende Männer, oft mit den Bezeichnungen „arbeitsscheu“, „Stromer“ oder „Landstreicher“ in Verbindung gebracht. Auch obdachlose Frauen und Mädchen wurden häufig als „gefallen“ abgestempelt, verbunden mit der Vorstellung, der Prostitution verfallen zu sein.
Ohne Einkommen folgte die Überführung in den Polizeigewahrsam oder die Einweisung ins Arbeitshaus: umgeben von schweren Bedingungen wie harte Arbeit, strenge Überwachung, knappe Nahrung und keine Entscheidungsfreiheit über die Beendigung des Aufenthalts. Obdachlosigkeit galt zudem als Straftat und konnte unter Anderem mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden.
Gegen Ende des Jahrhunderts entstanden erste sozialreformerische Ansätze wie kirchlich getragene Wanderarbeitsstätten, die unter dem Motto „Arbeit statt Almosen“ Hilfe für Wanderarbeiter boten. Für Familien gab es jedoch kaum passende Angebote - sie wurden häufig getrennt.
§
Urheber: Bundesarchiv
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5480226
In der Weimarer Republik stieg die Zahl der Menschen ohne festen Wohnsitz auf eine halbe Million an, verstärkt durch die wirtschaftlichen Folgen der Weltwirtschaftskrise. Verarmung, steigende Arbeitslosigkeit und fehlender bezahlbarer Wohnraum führten dazu, dass viele ihre Wohnung verloren oder erst gar keine fanden.
Die gesellschaftliche Sicht auf obdachlose Menschen wurde in dieser Zeit zunehmend durch medizinische und kriminalbiologische Deutungsmuster beeinflusst. Besonders Männer, die auf der Straße lebten, wurden nun nicht mehr nur als arbeitsscheu, sondern auch als psychisch krank angesehen. Aus diesem Grund verbreitete sich die Vorstellung, sie würden an angeborenen Defekten leiden, die sie zur Obdachlosigkeit trieben. Statt klassischer Fürsorge, forderten manche Fachleute Maßnahmen wie Zwangssterilisation oder die dauerhafte Ausschließung aus der Gesellschaft.
Obdachlosigkeit wurde dadurch immer weniger als soziales Problem verstanden und immer stärker als „biologische Abweichung“, die „behandelt“ oder „ausgesondert“ werden müsse.
§
© Digitale Lernwelten GmbH
Datengrundlage: The Weimar Republic. The Crisis of Classical Modernity, New York, Hill and Wang, 1989, S. 118.
Zahlen der Arbeitslosigkeit zwischen 1887 und 1975
Die nationalsozialistische Sozialpolitik knüpfte in vielen Punkten an bestehende Vorstellungen und Praktiken der Weimarer Republik und des Kaiserreichs an, insbesondere in der Bewertung von Obdachlosigkeit als gesellschaftliches Problem, das es zu beseitigen galt.
Nach der Machtübernahme 1933 erklärte das NS-Regime die Bekämpfung von Obdachlosigkeit und „sozialer Unordnung“ zu einem politischen Ziel. Die Zahl der Obdachlosen sank rasch, allerdings nicht durch Hilfe, sondern durch Verfolgung, Zwangsmaßnahmen und systematische Räumung von Asylen. Bereits ab Mitte der 1930er-Jahre kam es zu organisierten Polizeiaktionen wie den sogenannten „Bettlerrazzien“, bei denen Menschen ohne festen Wohnsitz in großer Zahl festgenommen, in staatliche Einrichtungen eingewiesen, und schließlich zwangssterilisiert wurden.
Im Jahr 1938 kam es dann zur Durchführung der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ unter Heinrich Himmler, eine reichsweite Massenverhaftungswelle, die sich unter anderem gegen Menschen richtete, die als arbeitsunwillig oder gesellschaftlich unerwünscht galten. Dies markierte einen tragischen Wendepunkt: Die Behandlung obdachloser Menschen verlagerte sich endgültig von der Fürsorge zur offenen Verfolgung.
Literaturhinweise
Literaturhinweise
- Ayaz, W., „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995.
- Hörath, J., Die KZ-Einweisungen von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ bzw. „Berufsverbrecherinnen“ im Nationalsozialismus. Rechtliche Konstrukte und kriminologische Diskurse, in: Nonnenmacher, F. (Hrsg.), Die Nazis nannten sie „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“. Geschichten der Verfolgung vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2024, S.50-85.
- Schenk, B., Eine Geschichte der Obdachlosigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de, CC BY-NC-ND 3.0 DE, 2018.
Aufgabe
1. Analysieren Sie anhand des vorliegenden Textes die genannten Ursachen für Arbeitslosigkeit im Kaiserreich und in der Weimarer Republik.
2. Erläutern Sie außerdem, wie sich laut Text der Umgang mit obdachlosen Menschen von der Zeit des Kaiserreichs über die Weimarer Republik bis zum Nationalsozialismus verändert hat.
"Obdachlose", "Asoziale", Angehörige des "Präkariats"?
§
Aufgabe
1. Schauen Sie das Video an.
2. Formulieren Sie einen Blog-Beitrag, der über den Gebrauch des Wortes "asozial" aufklären soll.
2.1 Begründen Sie darin, weshalb es aus Ihrer beruflichen Erfahrung nicht sinnvoll ist, diesen Begriff weiterhin zu nutzen.
Das Leben von Anna Burger
Sterbeschein von Anna Burger
Sterbeschein von Anna Burger
§
Sigrid Fahrecker
Aufgabe
Arbeiten mit dem Steckbrief:
1. Informieren Sie sich über das Leben von Anna Burger mithilfe des interaktiven Steckbriefs.
2. Überlegen Sie, wie das heutige staatliche Sozialsystem mit einer Person wie Frau Burger umgehen würde?
Dieses Modul wurde erarbeitet von Vanessa Wild und Frau Siegrid Fahrecker, der Enkelin von Anna Burger.