Johann Scheithauer

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Johann Scheithauer

Johann Scheithauer – Metzgerlehrling aus Thierfeld in Sachsen – mit 17 Jahren eingewiesen ins Jugend-KZ Moringen – HĂ€ftlingsnummer 70. Dann HerzogsĂ€gmĂŒhle: Urlaub verweigert, Entlassung abgelehnt – stattdessen Kontrolle, Gutachten, Überwachung. Mit 19 zum MilitĂ€r – was danach geschah, bleibt offen.
Was es hieß, als Jugendlicher „abweichend“ zu sein – zeigt seine Geschichte.

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Johann Scheithauer wurde am 24. Dezember 1922 im sĂ€chsischen Thierfeld geboren. Dort wuchs er bei seinen Eltern Kurt und Helene Scheithauer auf. Viel wissen wir ĂŒber seine Kindheit nicht – keine Briefe, keine TagebĂŒcher, keine ErzĂ€hlungen von ihm selbst. Alles, was wir wissen, stammt aus Akten der Polizei, 'FĂŒrsorge' und Psychiatrie. Und diese waren nicht auf seiner Seite.

Johann besuchte die Volksschule und machte danach eine Ausbildung zum Metzger. Er schloss diese sogar mit einer GesellenprĂŒfung ab – ein Beweis dafĂŒr, dass er lernfĂ€hig war und arbeiten konnte. Bisher scheint der Lebensweg von Johann Scheithauer ziemlich durchschnittlich. Wieso existieren nun aber ĂŒber ihn mehrere Akten einer 'FĂŒrsorgeeinrichtung' in Bayern und psychiatrische Gutachten?

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Johann wurde im Jahr 1940 von der Kriminalpolizei Zwickau in das „Jugendschutzlager Moringen“ eingewiesen. BegrĂŒndet wurde dies damit, dass Johann kriminell und „asozial“ gewesen sei. Er hĂ€tte nach seiner Ausbildung verschiedene Arbeitgeber gehabt, bei denen er – so das Schreiben der Polizei – nicht vernĂŒnftig gearbeitet hĂ€tte; sich oft nachts „herumgetrieben“ und keine Lust zu arbeiten gezeigt hĂ€tte. Außerdem soll er am 11.11.1939 einen HJ-FĂŒhrer, der seine Uniform getragen hatte, beleidigt haben. Er besaß eine Vorstrafe: Er wurde beim Fahren eines Fahrzeugs ohne FĂŒhrerschein erwischt und erhielt deshalb eine Verurteilung (15 RM oder 5 Tage Haft). Die Strafe wurde allerdings durch eine Amnestie wieder aufgehoben. Dies ist Grund genug fĂŒr die Beamten, Johann als Fremdkörper der sog. „Volksgemeinschaft“ zu sehen.

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Schreiben der Kriminalpolizei Zwickau, vom 19. Juli 1940, in: LKA NĂŒrnberg Nr. 1785.

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Der gerade einmal 17-jĂ€hrige Jugendliche wollte sich also lieber ausprobieren und seinem Alter entsprechend Freiheit genießen, statt gehorsam und angepasst zu funktionieren – dieses Verhalten wurde von den Nationalsozialisten nicht toleriert und Jugendliche, die sich nicht dem TotalitĂ€tsanspruch des Regimes unterordnen wollten, wurden in entsprechende Lager gebracht.

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Aufgabe (Basis)

Sprache des Verbrechens

1. Analysieren Sie, wie staatliche Institutionen wie Polizei, 'FĂŒrsorge' und Psychiatrie zur sozialen Ausgrenzung Johann Scheithauers beigetragen haben.

2. Gehen Sie dabei auch auf die Rolle von Sprache und Zuschreibungen wie „arbeitsscheu“ oder „asozial“ ein.

3. Welche Funktion hatte der Begriff „Volksgemeinschaft“ in diesem Zusammenhang? Halten Sie Ihre Gedanken im Miro-Board fest.

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Ein Gutachten der sog. Psychologin Dr. Katharina Hell, die ĂŒber viele Insassen des Wanderhofs HerzogsĂ€gmĂŒhle schrieb, bescheinigte Johann Scheithauer, er sei

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Quelle: Akte ĂŒber Johann Scheithauer, LKAN Nr 9565, fol. 2-3.


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Aufgabe (Basis)

FĂŒhrungsberichte und Gutachten der TĂ€ter ĂŒber die Opfer

Die Psychologin Katharina Hell bescheinigte Johann Scheithauer Charaktereigenschaften und schĂ€tzte sein Verhalten ein. Auf dieser Grundlage kam sie zu der Schlussfolgerung, Scheithauer habe eine “charakterologische Abartigkeit”.

1. Lesen Sie die Aussagen von Hell ĂŒber Johann Scheithauer.

2. Beurteilen Sie ihre Schlussfolgerung.

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Johann im Jugendkonzentrationslager Moringen

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Schon kleine Abweichungen vom erwarteten Verhalten Jugendlicher konnten ausreichen, um sie als ‚asozial‘ oder kriminell zu stigmatisieren. Eigenschaften wie Widerspruch oder Unangepasstheit galten als Zeichen mangelnder ‚Volksgemeinschaftstauglichkeit‘. So erhielten staatliche Behörden weitreichende Möglichkeiten, unbequeme oder auffĂ€llige junge Menschen, auszugrenzen und zu sanktionieren - bis hin zu einer KZ-Einweisung. 

Johann war einer der ersten Jugendlichen, die in Moringen einsitzen mussten. Erst im August 1940 wurden Jugendliche dort inhaftiert, Johann wurde bereits im September 1940 eingewiesen und bekam die HĂ€ftlingsnummer 70. Über seine Zeit im „Jugend-Konzentrationslager“ sind kaum Informationen bekannt. In der Akte findet sich lediglich eine Beurteilung durch den BlockfĂŒhrer Otto Fuck, welche dieser am 12.5.1941 ĂŒber Johann verfasste. Wie er selbst die Zeit dort erlebt hatte und welches Unrecht ihm dort angetan worden war, darĂŒber geben die Akten keine Auskunft.

Fuck beschrieb Johann als durchschnittlichen Jugendlichen, der sich gut eingefĂŒgt hatte und wenig Probleme gemacht hatte: „Er ist ein typischer junger Mensch in den Entwicklungsjahren von ganz unkomplizierter Natur, durchaus normalen Anlagen und harmlosem GemĂŒt. Auf dem Block ist er gerade kein Musterknabe, er gibt aber auch keinen Anlass zu besonderen Klagen. Seine Arbeitsleistungen sind zufriedenstellend“.

Im September 1941 wurde er aus dem „Jugendschutzlager“ entlassen. Das Reichskriminalpolizeiamt unterstellte ihm mit der Entlassung aber auch direkt der „polizeilichen planmĂ€ĂŸigen Überwachung“ und ließ ihn dafĂŒr nach HerzogsĂ€gmĂŒhle bringen.

Johann in HerzogsĂ€gmĂŒhle

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In der HerzogsĂ€gmĂŒhle wurde er vom Anstaltsarzt Dr. Lohse bei seiner Ankunft untersucht und auf seine ArbeitsfĂ€higkeit geprĂŒft – dieses Prozedere war typisch bei Neuankömmlingen im Zentralwanderhof; die ArbeitsfĂ€higkeitsuntersuchung entschied auch, wie „gut“ der jeweilige Insasse versorgt wurde. Johann wurde als „voll arbeitsfĂ€hig“ eingestuft und wurde aufgrund seiner absolvierten Ausbildung in der eigenen Metzgerei eingesetzt.

Aus seinem FĂŒhrungsbogen geht hervor, dass er in der Metzgerei gerne und gut arbeitet. FĂŒr Weihnachten 1941 stellte er einen Antrag auf Urlaub bei seinen Eltern. Dieser wurde ihm allerdings nicht genehmigt. Im Dezember 1941 lautete der Eintrag im FĂŒhrungsbogen noch: „Er gibt sich damit zufrieden und ist weiterhin eifrig an der Arbeit“. Im Januar 1942 Ă€nderte sich diese Bewertung schlagartig: „Legt ein mĂŒrrisches und finsteres Wesen an den Tag“. Allerdings, so auch der gleiche Eintrag: „In der weiteren Betreuung macht Scheithauer keine Schwierigkeiten“.

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Archiv Diakonie HerzogsĂ€gmĂŒhle

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Archiv Diakonie HerzogsĂ€gmĂŒhle

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Johann will weg

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Neben dem oben erwĂ€hnten Urlaubsantrag stellte Johann im Januar 1942 zusammen mit einem anderen Insassen einen Antrag auf Entlassung. Als BegrĂŒndung hierfĂŒr fĂŒhrten die beiden an, dass sie ihre Ausbildungen bereits absolviert hatten und nun gerne in einer festen Anstellung in der NĂ€he ihrer Familien arbeiten wollten. Ein internes Antwortschreiben an den 'FĂŒrsorger' WildschĂŒtte vom Leiter des LVW, dem SA-Mann Alarich Seidler, zeigt das strenge und auf Strafen ausgerichtete System, welches in den Einrichtungen des Landesverbandes praktiziert wurde: Seidler wies in diesem Schreiben darauf hin, dass solche Gesuche strengen Regeln unterliegen und nur ĂŒber den „Dienstweg“ laufen durften. Er bat aber auch gleichzeitig von einer Bestrafung der beiden Jugendlichen deswegen abzusehen. Inhaltlich schrieb er, dass die Kriminalpolizei in MĂŒnchen ĂŒber Entlassungen entscheiden wĂŒrde, die beiden bei einer Entlassung aber nur im oberbayrischen Landkreis Weilheim vermittelt werden wĂŒrden. Zum Schluss wies Seidler seinen Mitarbeiter noch an, die „Angelegenheit mit aller Sorgfalt und Vorsicht zu behandeln“, da sonst die Gefahr bestand, dass die Jugendlichen entlaufen wĂŒrden: „damit nicht aus einem schroffen Vorgehen heraus weitere Entlaufungen indirekt veranlasst werden“.

Johann wurde nicht entlassen und musste weiter in der HerzogsĂ€gmĂŒhle bleiben. Im April 1942 wurde er von der oben bereits erwĂ€hnten Hell psychiatrisch untersucht. In ihrem Bericht beschrieb Hell, dass sich Johann selbstkritisch mit seinem Verhalten auseinandergesetzt hatte. Sein Intellekt und seine Auffassungsgabe wurden von ihr als durchschnittlich beschrieben:

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Psychiatrischer Beurteilung von Katharina Hell ĂŒber Scheithauer Johann, in: LKA NĂŒrnberg 9565, S. 4.

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Kriegsdienst als Lösung?

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Johann wurde dann tatsĂ€chlich zur Wehrmacht eingezogen: Im Juni 1942 wurde er aus HerzogsĂ€gmĂŒhle entlassen. Er kam zur Gebirgsartillerie Abteilung 79. Was hier mit ihm passierte, lĂ€sst sich aus der Akte nicht weiter nachvollziehen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist noch nicht klar, ob Johann den Kriegseinsatz ĂŒberlebt hatte und was danach mit ihm passiert ist.

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Aufgabe (Vertiefung)

Johann Scheithauer suchte nach Freiheit in einem System, das keinen Raum fĂŒr Abweichung ließ. Seine Geschichte steht exemplarisch fĂŒr viele junge Menschen, die im Nationalsozialismus ausgegrenzt und verfolgt wurden – nicht wegen Verbrechen, sondern weil sie nicht ins Bild der „Volksgemeinschaft“ passten.

Setzen Sie sich in einem kurzen Essay mit folgender Frage auseinander:

Was lĂ€sst sich aus der Geschichte von Johann Scheithauer ĂŒber die Gefahren eines autoritĂ€ren Systems ableiten – und welche Bedeutung hat sie fĂŒr den Umgang mit Vielfalt, Abweichung und individueller Freiheit heute?

Nutzen Sie Beispiele aus dem Kapitel und ziehen Sie, wenn möglich, Verbindungen zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten. Sie können Ihren Essay im Miro-Board teilen.