Diktatur statt Zuwendung - eine Querschnittanalyse

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Diktatur statt Zuwendung - eine Querschnittanalyse

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Bestimmte VorgĂ€nge waren immer gleich. Ob es sich um junge oder alte, wandernde oder sesshafte Menschen in HerzogsĂ€gmĂŒhle handelte – einige Aussagen tauchen immer wieder auf, bestimmte VorgĂ€nge scheinen immer unverĂ€ndert gewesen zu sein. Hier sollen einige Hinweise auf solche Ähnlichkeiten gegeben werden. Warum? Weil sie auf einer zweiten Ebene den Charakter solcher Einrichtungen wie HerzogsĂ€gmĂŒhle oder Indersdorf verdeutlichen. Und weil sie viel besser die Wahrheit aufdecken, als die LĂŒgen der TĂ€ter oder die unter Druck und Angst entstandenen Handlungen der Opfer.

Insassen wollen weg

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Archiv Diakonie HerzogsĂ€gmĂŒhle

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Der Wanderhof-Insasse Willy Zielke schrieb an alle ZustĂ€ndigen Zettel, um jedes nur denkbare Hindernis fĂŒr seine Entlassung selbst aus dem Weg zu rĂ€umen.

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Archiv Diakonie HerzogsĂ€gmĂŒhle

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"Lieber Herr WildschĂŒtte!" – Willy Zielke verschenkte in Erwartung seiner Entlassung seine Sachen an Mit-Insassen. Wollte er so tun, als sei seine Freiheit schon RealitĂ€t?

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Archiv Diakonie HerzogsĂ€gmĂŒhle

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"Ich glaube mit Bestimmtheit sagen zu können ...": Flehentliches Bittschreiben des 23-jÀhrigen Wanderhof-Insassen Josef Mayr um Entlassung, 19.8.1940

Willy Zielke:

“Aufgrund meines freiwilligen Kommens [...] kĂŒndige ich Ihnen zum 1. September” (1938)

Maria Spitzauer

"Dass ich wieder heimkommen darf, ist meine einzige Bitte. (1940)

Brigitte Dutz

"dass die Obengenannte [Brigitte Dutz] aus dem Heimathof Bischofsried entwichen ist" (1943)

Josef Mayr

"Josef Mayr [...] bittet [...] um Aufhebung der Einweisung in das Wanderlager HerzogsĂ€gemĂŒhle"

"Gleichzeitig bitte ich auch fĂŒr meinen Stiefbruder, Alois Wallner, denselben Bescheid gĂŒnstig zu entscheiden."

Quellenhinweis:
Die Zitate stammen aus den Insassen-Akten. Willy Zielke: 22.8.2025, LKAN Nr 3220, fol. 58; Maria Spitzhauer: Archiv Diakonie HerzogsĂ€gmĂŒhle, Akte Maria Spitzauer; Brigitte Dutz: IfZArch ED_0728_1287_Dutz, fol. 22; Josef Mayr: Archiv Diakonie HerzogsĂ€gmĂŒhle, Akte 31477.
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Franz-Xaver Bremm

"denn wenn ich jetzt nicht hinauskomm [...] dann lasst hier mich in Gottes Namen absterben"

Der ĂŒber 50-jĂ€hrige Wanderhof-Insasse Franz Xaver Bremm kĂ€mpfte lange darum, aus dem Wanderhof entlassen zu werden. Er war am 4. August 1887 in Forstacker bei Regensburg geboren worden und galt als "»unverbesserlicher Gewohnheitsbettler«.

Seine Bittbriefe, in denen er nahezu um Hilfe fleht, sind herzzerreisend. In einem Brief an seine Schwester vom Juni 1940 bat er, "du brauchst jetzt nur zu schreiben, er kann bei dir eintreten in die Arbeit [...] denn ich bin jetzt schon ĂŒber ein Jahr hier darum brĂ€ucht ich euch doch das(s) ich wieder hieraus kann [...] denn wenn ich jetzt nicht hinauskomm wo die Arbeit da ist dann lasst hier mich in Gottes Namen absterben [...]". 

Weitere Briefe und Informationen ĂŒber Franz-Xaver Bremm sind auf dieser Plattform aufgearbeitet.

Brief Bremms vom Juni 1940 an seine Schwester Kreszenz mit der dringenden Bitte, ihn aus dem Wanderhof zu holen. Personenakte Franz-Xaver Bremm, LKAN 11981 und 3174, Archiv Diakonie HerzogsĂ€gmĂŒhle

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Archiv Diakonie HerzogsĂ€gmĂŒhle

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Auszug aus einem Entlassungsgesuch des Wanderhof-Insassen Franz-Xaver Bremm vom Oktober 1939 an den Landrat von Regensburg.
Quelle: Personenakte Franz-Xaver Bremm, LKAN 11981 und 3174, Archiv Diakonie HerzogsĂ€gmĂŒhle.

Betteln fĂŒr die Freiheit: "Ich bitte um Entlassung. [...] Indem ich immer Sehnsucht nach meiner Heimat habe. [...] Indem ich mir dieses Los nicht verdient habe möchte Ich die Herren höflichst bitten, meine Bitte zu gewĂ€ren."

Unehrlichkeit der TĂ€ter

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Archiv Diakonie HerzogsĂ€gmĂŒhle

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Der Angestellte des Wanderhofs WildschĂŒtte bittet den Arzt, ĂŒber die Möglichkeit einer Entlassung des Insassen Willy Zielke zu entscheiden. Der Betroffene wusste offiziell davon nichts. WildschĂŒtte schrieb: "An den Anstaltsarzt, mit der Bitte um Feststellung, ob der Antragsteller noch im Wanderhof verbleiben kann ...", und er fĂŒgte hinzu: "... oder ob seine Einweisung in eine andere Anstalt geboten erscheint." Auch von diesen Ideen der Angestellten wusste der Insasse nichts.

Das innere Funktionieren der Einrichtungen beruhte darauf, dass mit den Insassen ĂŒber ihren Zustand, ihren weiteren Weg und ihre Zukunftsaussichten niemals offen gesprochen wurde. Man ließ sie im Unklaren, BegrĂŒndungen fĂŒr bestimmte Entscheidungen wurden oftmals nicht offen und nachvollziehbar gegeben. In gleicher Weise agierten die Mitarbeiter und Verantwortlichen auch nach außen, also gegenĂŒber den Angehörigen. Diesen wurden erlogene EntschuldigungenÂ ĂŒber den Zustand der Insassen gegeben. Oftmals versuchte man auch, sie vom Besuch ihrer Angehörigen abzuhalten. 

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Maria Spitzauer

"Schreiben Sie ihr nur ihre Bedenken ..."

Maria Spitzauer wollte immer wieder nach Haus entlassen werden. Sie konnte es im Wanderhof nicht aushalten. Aus ihren Briefen wird immer wieder deutlich, wie sehr sie ihre Familie vermisst. Auch einen Lebenspartner wĂŒnschte sie sich offenbar sehr. Der Wanderhofangestellte HĂ€gele schrieb dem Vater von Maria Spitzauer am 23.7.1941, dieser solle doch seine Tochter davon abbringen nach Hause zu kommen. Der Vater hatte Bedenken geĂ€ußert, seine Tochter nach Hause zu nehmen, u.a., weil er eine Versorgung nicht gewĂ€hrleisten konnte. HĂ€gele ging darauf ein und teilte dem Vater Johann Scheitauer mit: "Wenn Sie nun in ihren Briefen an zu Hause, den Wunsch Ă€ußert, nach Hause zu kommen, so können wir dagegen nichts machen. Sie mĂŒssen sie ja deshalb nicht nach Hause holen. Schreiben Sie ihr nur ihre Bedenken, denn dieselben haben wir auch und haben deshalb eine Verlegung in ein Heim beantragt."

Archiv Diakonie HerzogsĂ€gmĂŒhle, Akte Maria Spitzauer

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Willy Zielke

"keinen Anlass zu Klagen" vs. "Clubsessel-Kommuninist"

Willy Zielkes Angehörige interessierten sich fĂŒr ihn. Seine Mutter schrieb ihm und der Leitung des Wanderhofs HerzogsĂ€gmĂŒhle.  Sie besuchte ihn sogar. Oftmals gingen Briefe und Pakete auf die Reise. Seiner Mutter schrieb man auf ihre Sorgen und Fragen: “Zielke verrichtet hier zur Zufriedenheit der Betriebsleitung seine Arbeit und gibt keinen Anlass zu Klagen. Ihr Sohn ist nicht heimatlos, er hat wie viele seiner Mitkameraden, die auch unverschuldet in Not geraten sind und frĂŒher mitunter oft angesehene Posten bekleideten auf dem vorbildlich eingerichteten Wanderhof 'HerzogsĂ€gmĂŒhle' eine Heimat gefunden. FĂŒr Sie als Mutter besteht deshalb augenblicklich kein Grund sich wegen ihres Sohnes Sorgen zu machen.” 

Intern aber galt Zielke als schwierig, lĂ€stig, schließlich auch als unrettbar verrĂŒckt. Auf seine VorschlĂ€ge zur besseren Einrichtung und Ausstattung des Wanderhofs notierte ein Verantwortlicher, er halte Zielke fĂŒr einen eher faulen Menschen. Er sei zudem ein “Clubsessel-Kommunist” mit unsinnigen Ideen, der sich ĂŒberall einmische und den Ablauf des Betriebs störte. Man habe keine Zeit und Lust, auf Leute mit eigenen Vorstellungen einzugehen und “deren SchauspielerwĂŒnschen nachzukommen”.
An solchen Aussagen kann man sehen, dass Zielke zu Beginn seines Leidenswegs noch nicht schwieg und sich unterordnete. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aber hielten sich fĂŒr mĂ€chtig und allein entscheidungsfĂ€hig. Sie wollten sich nicht in ihre Welt hereinreden lassen. Die Insassen hatten sich nach ihrer Vorstellung zu arbeiten, zu schweigen und sich zu unterwerfen. 

Nach außen aber hieß es immer wieder, Zielke sei “auf eigenen Wunsch bei der Wanderarbeit beschĂ€ftigt und fĂŒhlt sich offenbar recht wohl dabei.” Um den immer lĂ€stiger werdenden Willy Zielke loszuwerden, wandte sich der Wanderhof-Mitarbeiter WildschĂŒtte am 23.8.1938: an den "Anstaltsarzt mit der Bitte um Feststellung ob" Zielke "noch im Wanderhof verbleiben kann oder ob seine Einweisung in eine andere Anstalt geboten erscheint.” Als ihn seine Mutter besuchen wollte, versuchte man sie mit dem Argument abzuwimmeln, dass der Wanderhof wegen einer Maul- und Klauenseuche im Landkreis nicht betreten werden dĂŒrfe. Sie solle sich daher damit abfinden, dass ”ein weiterer Besuch nicht erwĂŒnscht ist und auch nicht gestattet werden kann”. 

LKAN Nr 3220, Pag. 38v., 40, 58v.

Unterversorgung der Insassen

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Archiv Diakonie HerzogsĂ€gmĂŒhle

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Aufzeichnung des Wanderhof-Insassen Willy Zielke ĂŒber den Mangel an gesundheitlichen Heil- und Hilfsmitteln bei seinen Mit-Insassen.

Die Insassen des Wanderhofs wurden schlecht versorgt. Ihr Elend nahm zu, als der Krieg ausbrach und je lĂ€nger er dauerte, desto schlimmer wurde es. Dabei mangelte es schon in Friedenszeiten an fast jeder Art Versorgung und UnterstĂŒtzung. Heil- und Hilfsmittel, wie Brillen und Prothesen, auf die gerade Ă€ltere Insassen dringend angewiesen waren, wurden ihnen offenbar verweigert.

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Wanderhof-Insasse Joseph Mayr: Sehnsucht nach Zuhause.

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Joseph Mayr liest seinen Brief vor.

Stimme und Video auf Grundlage seiner eigenen Worte und eines Fotos von ihm mit KI generiert.

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Scheinbare Fachlichkeit der TĂ€ter

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In den Einrichtungen des LVW arbeiteten neben völlig fachfremdem und ungebildetem Personal, auch Menschen, die formal eine berufliche Qualifikation besaßen, etwa Ärzte oder Handwerker. Unter ihnen war beispielsweise auch die Psychologin Dr. Katharina Hell, die im Auftrag des Kaiser-Wilhelm-Instituts fĂŒr Psychiatrie, in der genealogisch-demografischen Abteilung sogenannte Forschungen betrieb und dafĂŒr die Insassen der Einrichtungen des LVW als Probanden nutzte. Über viele Insassen des Wanderhofs HerzogsĂ€gmĂŒhle schrieb sie sogenannte psychologische Gutachten.

Dem jungen Mann Johann Scheithauer, der sich unangepasst gezeigt hatte und dafĂŒr, bevor er nach HerzogsĂ€gmĂŒhle geschickt wurde, auch schon im Jugendkonzentrationslager Moringen inhaftiert gewesen war, bescheinigte Katharina Hell:

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Quelle: AuszĂŒge aus dem Gutachten aus der Akte ĂŒber Johann Scheithauer, LKAN Nr 9565, fol. 2-3. Noch heute wird Dr. Katharina Hell mit ihren 'Projekten' in Forschungsdatenbanken gefĂŒhrt, zum Beispiel hier.

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Aufgabe (Basis)

FĂŒhrungsberichte und Gutachten der TĂ€ter ĂŒber die Opfer

Die Psychologin Katharina Hell bescheinigte Johann Scheithauer Charaktereigenschaften und schÀtzte sein Verhalten ein. Auf dieser Grundlage kam sie zu der Schlussfolgerung, Scheithauer habe eine 'charakterologische Abartigkeit'.

1. Lesen Sie die Aussagen von Hell ĂŒber Johann Scheithauer.

2. Beurteilen Sie ihre Schlussfolgerung.

Was tat Katharina Hell und warum?

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Die folgenden Audios stellen verschiedene Rechtfertigungsmuster dar, die das Verhalten einer TĂ€terin wie Katharina Hell bestimmt haben könnten. NatĂŒrlich gibt es keine Rechtfertigung fĂŒr ihre Taten. Dennoch können diese Perspektiven helfen, die TĂ€terschaft besser zu verstehen.

Die ZwÀnge des Systems Karriere und Verantwortungsabwehr Hochstapelei
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Die ZwÀnge des Systems Karriere und Verantwortungsabwehr Hochstapelei
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Aufgabe (Basis)

Interpretationen – Schuld – eigene Verantwortung

  1. Diskutieren Sie die Interpretationsmöglichkeiten zum Verhalten von Menschen wie Katharina Hell.
    1. Nehmen Sie Stellung zu diesen Interpretationen. Welche Möglichkeit finden Sie ĂŒberzeugend und aus welchen GrĂŒnden?
    2. Entwerfen Sie eine andere Interpretation, wenn Sie von keiner ĂŒberzeugt sind.
  2. VerĂ€ndern solche Interpretationen etwas an der Schuld von Katharina Hell? BegrĂŒnden Sie Ihre Position.
  3. Leiten Sie aus der BeschĂ€ftigung mit den Gutachten von Katharina Hell Schlussfolgerungen fĂŒr Ihre eigene Arbeit ab. Gehen Sie dabei auf folgende Kriterien ein:
    - Arbeit im Team,
    - VerhÀltnis zum Vorgesetzten,
    - Bedeutung von Politik fĂŒr die eigene Arbeit
    - persönliche berufliche Ziele.

Biografie eines fiktiven FĂŒrsorgers

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Einleitung Weimarer Republik (1918–1933) NS-Zeit (1933–1945) Nachkriegszeit und Bundesrepublik (1945–1975)

Hans Reiter – Ein SozialfĂŒrsorger im Wandel der Zeit

Die fiktive Biografie von Hans Reiter beleuchtet die ambivalente Entwicklung eines SozialfĂŒrsorgers zwischen Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Bundesrepublik. Sie soll zeigen, wie persönliche Überzeugungen, Ă€ußere ZwĂ€nge und gesellschaftliche UmbrĂŒche das Handeln eines Einzelnen prĂ€gen und zur Anpassung oder Verstrickung fĂŒhren können. Diese fiktive Lebensgeschichte soll zum Nachdenken darĂŒber anregen, wie sozialpolitische Aufgaben und die damit verbundenen Menschen instrumentalisiert werden können.

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Hans Reiter wĂ€chst in Augsburg auf. Sein Vater, ein gelernter Schreiner, verliert nach dem Ersten Weltkrieg seine Anstellung. Die Familie kĂ€mpft ums Überleben, was Hans nachhaltig prĂ€gt. Bereits in den 1920er Jahren entwickelt er ein distanziertes VerhĂ€ltnis zum sogenannten „fahrenden Volk“ und Arbeitslosen, die er als arbeitsscheu, kriminell und unzuverlĂ€ssig ansieht. Er beginnt eine Ausbildung zum SozialfĂŒrsorger bei der evangelischen Diakonie und wird 1925 bei einer Heil- und Pflegeanstalt angestellt.

Hans fĂŒhlt sich der christlichen FĂŒrsorge verpflichtet, doch zunehmend empfindet er seine Arbeit als undankbar. Er Ă€rgert sich ĂŒber die „mangelnde Disziplin“ der HilfebedĂŒrftigen und sieht in der wachsenden Zahl der Arbeitslosen eine Gefahr fĂŒr die Ordnung. Seine Vorgesetzten schĂ€tzen ihn als pflichtbewussten, aber wenig einfĂŒhlsamen FĂŒrsorger. Wie viele Menschen seiner Zeit ist nicht dazu in der Lage, ĂŒber seine eigenen GefĂŒhle zu sprechen und die GefĂŒhle anderer umzugehen. Das Zeigen von GefĂŒhl gilt fĂŒr ihn als SchwĂ€che.

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Die Machtergreifung der Nationalsozialisten erscheint Hans wie eine BestĂ€tigung seiner Kritik. Er hofft auf das ordnende Prinzip der neuen Machthaber. 1935 besucht er eine Schulung der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV). Dort lernt er, dass die „Volksgemeinschaft“ nur durch strikte Ausgrenzung von „asozialen Elementen“ erhalten werden könne. Hans fĂŒhlt sich bestĂ€tigt und ĂŒbernimmt die Prinzipien zur Gestaltung einer neuen Gemeinschaft. Er lĂ€sst sie einfließen in seine Berichte, in seine GesprĂ€che mit den Insassen und in die Art, wie er sie behandelt. Seine ĂŒberzeugten Kategorien sind von nun an “Arbeitswilligkeit” “UnterordnungsfĂ€higkeit” “Respekt gegenĂŒber Vorgesetzten”. Er beurteilt Menschen zunehmend nach diesen Kategorien.

Hans beginnt, seine Stellung wieder geachtet und seine Arbeit als sinnvoll und wertvoll zu betrachten. Er erhĂ€lt mehr Verantwortung, fĂŒhrt Kontrollen durch und organisiert Sammelaktionen fĂŒr das Winterhilfswerk.
Die Jahre 1943 und 1944 sind geprĂ€gt von Kriegsangst und zunehmendem Druck. Hans ist froh, dass er weiterhin seiner Arbeit nachgehen kann und noch nicht eingezogen wurde. Das wĂŒrde er natĂŒrlich öffentlich so nicht sagen. Er sieht sich in seiner Überzeugung bestĂ€tigt, dass seine Aufgabe wichtig fĂŒr die Gesellschaft sei. Um seinen Posten zu sichern und nicht aufzufallen, ist er umso mehr bemĂŒht, die Vorgaben der Anstaltsleitung strikt umzusetzen. Er kontrolliert die Insassen mit wachsender HĂ€rte und meldet „nicht arbeitsfĂ€hige“ Personen gewissenhaft zur ÜberprĂŒfung. In dieser rigiden ErfĂŒllung seiner Pflichten sieht er seinen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Staat.

Ab 1944-1945 rĂŒcken Fragen des eigenen Überlebens in den Vordergrund. Daher sind die Insassen sekundĂ€r.

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Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes steht Hans vor den TrĂŒmmern seines bisherigen Lebens. Eine Entnazifizierung bleibt aus – stattdessen richtet sich sein gesamter Fokus auf das Überleben. In einer Zeit, in der Ressourcen knapp und Perspektiven unsicher sind, klammert er sich an das, was er kennt: die Arbeit im Sozialbereich. Hans setzt seine vorhandenen Kompetenzen ein, um sich bei dem kirchlichen TrĂ€ger, der die Anstalt, in der er arbeitet, ĂŒbernommen hat, nĂŒtzlich zu machen. Er unterstĂŒtzt bei der Versorgung von Kriegswaisen, organisiert SuppenkĂŒchen fĂŒr Vertriebene und hilft bei der Unterbringung obdachloser Familien. FĂŒr ihn zĂ€hlt jetzt nur noch die Gegenwart – seine gesamte Energie steckt er in die Arbeit, um sich und seine Familie ĂŒber Wasser zu halten.

Hans passt sich schnell an die neue RealitĂ€t an. Der kirchliche TrĂ€ger legt den Fokus auf christliche NĂ€chstenliebe und soziale Integration. Hans folgt den neuen Vorgaben und bemĂŒht sich, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Über die NS-Zeit spricht er kaum. FĂŒr ihn zĂ€hlt nur die Gegenwart, die er als zweite Chance betrachtet. 1953 wird er pensioniert. In den folgenden Jahren bleibt er als Ehrenamtlicher aktiv, organisiert Freizeitangebote fĂŒr Kriegsveteranen und unterstĂŒtzt Vertriebene. 

Seinen Sohn Karl, der sich in den 1960er Jahren kritisch mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzt, weist er schroff ab. "Was geschehen ist, ist geschehen", sagt er. Hans stirbt 1975, ĂŒberzeugt davon, dass er ein guter FĂŒrsorger war.

Einleitung Weimarer Republik (1918–1933) NS-Zeit (1933–1945) Nachkriegszeit und Bundesrepublik (1945–1975)

Schuld?

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Der deutsche Philosoph Karl Jaspers hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg in seiner Schrift "Die Schuldfrage" mit der Frage befasst, wie man die Verantwortung fĂŒr die Verbrechen der NS-Zeit bewerten könnte. Seine Absicht war es, die spezifische Schuld von TĂ€tern klarer zu fassen. Er wies darauf hin, dass nie ein Volk als Ganzes angeklagt werden könne, sondern Schuld immer Einzelne auf sich geladen haben.

Er beschrieb vier Arten von Schuld: 

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Aufgabe (Vertiefung)

Arten von Schuld

  1. Wenden Sie die Schuldbegriffe von Karl Jaspers auf die hier genannten Verhaltensweisen der TÀter "Unehrlichkeit" und "Scheinfachlichkeit" an. Welche TÀter trifft Ihrer Meinung nach welche Schuld?
  2. BegrĂŒnden Sie Ihre Ansicht.
  3. Achten Sie bei der Bearbeitung der Kapitel zu Alarich Seidler, Vinzenz Schöttl und Friedrich Goller in den Abschnitten, die sich mit deren Leben nach Ende der NS-Herrschaft befassen, auf die Schuldbegriffe.
  4. Bewerten Sie, ob diese TÀter nach 1945 gerecht behandelt worden oder nicht.
    Notieren Sie sich dafĂŒr auf dem Miro-Board Ihre eigenen Vorstellungen von
    - gesetzlichem Recht
    - politischer Verantwortung
    - Moral (Gut und Böse)
    - Metaphysik (Verantwortung fĂŒr alles)