Anton Leistle (Anna-Lena Berger)

§ Cc4

Anton Leistle (Anna-Lena Berger)

Gelernter Käser aus Denklingen bei Kaufbeuren. Anton Leistle musste verschiedene Zwangsstationen durchlaufen. Er wurde erst in den Zentralwanderhof Herzogsägmühle eingewiesen und danach in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar überstellt. Dort wurde er ein Opfer der NS-Gesundheitspolitik.

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Anton Leistle wurde am 4. Januar 1908 in Denklingen bei Kaufbeuren geboren. Ab 1941 war er im Zentralwanderhof Herzogsägmühle. Alles, was wir heute über sein Leben wissen, stammt aus Akten, die dort angelegt wurden. Die meisten Einträge wurden von den Mitarbeitenden dort geschrieben, stammen also von Tätern und Täterinnen. Viele dieser Informationen sind widersprüchlich und erzählen Antons Geschichte aus einem bestimmten Blickwinkel, nämlich dem des NS-Gesundheitssystems.

Anton Lesitles Lebenslauf

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Das einzige Dokument in Antons Akten, das von ihm selbst geschrieben wurde, ist sein Lebenslauf, den er nach seiner Ankunft im Zentralwanderhof Herzogsägmühle nach bestimmten Kriterien anfertigen musste. Diejenigen, die Antons Akten anlegten, wollten wissen wann und wo Anton geboren wurde, welche Ausbildung er absolvierte, wo er arbeitete, und ob er Vorstrafen hatte. Antons Lebenslauf ist kurz gehalten und gibt genau solche Angaben. Mehr Informationen über seine Persönlichkeit, seine Wünsche oder Ziele interessierten die Nationalsozialisten nicht. Es zählte die Leistung, die ein Mensch erbrachte und nicht, wer er war.

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Anton Leistles Lebenslauf als Abschrift

§ GFDLBYSA

LKA Nürnberg Akten Nr. 2006 und 9766

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Aufgabe (Basis)

  1. Analysieren Sie, wie sich das nationalsozialistische Menschenbild in Antons Lebenslauf widerspiegelt.
  2. Bewerten Sie, wie sich die Anforderungen an einen Lebenslauf im Zentralwanderhof Herzogsägmühle von heutigen Anforderungen unterscheiden.
  3. Erörtern Sie, wie Antons Lebenslauf mit Informationen über seine Persönlichkeit oder Individualitat ergänzt werden könnte.
  4. Beurteilen Sie, inwiefern hervorgehobene Denkweisen, wie z.B. Leistungsorientierung oder Anpassungsdruck in der heutigen Gesellschaft bestehen.

Akten voller Widersprüche: Anton Leistles Einweisung

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Warum Anton nach Herzsogsägmühle kam, lässt sich aus den Akten nicht eindeutig bestimmen, denn die Informationen sind widersprüchlich. Der erste Eintrag im Führungsbogen vom 14. Januar 1941 beschreibt die Art des Zugangs als „freiwillig.“ In seinem Lebenslauf schreibt Anton aber, dass er von der Deutschen Arbeitsfront (DAF) eingewiesen wurde. Außerdem wurde am 10. Februar ein Einweisungsschreiben verfasst, welches deutlich werden lässt, dass Anton keineswegs freiwillig nach Herzogsägmühle kam. Bei genauerer Betrachtung der verschiedenen Dokumente fallen mehr und mehr Ungereimtheiten auf.

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Einweisungsschreiben Führungsbogen
§ Cc4
§ Cc4
Einweisungsschreiben Führungsbogen
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Aufgabe (Basis)

1. Ermitteln Sie Ungereimtheiten und Widersprüche in den Dokumenten.

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Das Einweisungsschreiben, welches am 10. Februar 1941 vom Landrat von Schongau, einem Herrn Dr. Moos, ausgestellt wurde, ordnet einen „polizeilichen Unterkommenszwang“ an und weist Anton in den Zentralwanderhof Herzogsägmühle ein. Grundlage für die Einweisung sind das „Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz“ von 1926 und eine „Verordnung zum Schutze von Volk und Staat“ aus dem Jahr 1933.

Das Einweisungsschreiben führt mehrere Begründungen auf. Es besagt, dass Anton „unterkommenslos“ gewesen sei und weder einen Nachweis über geregelte Arbeit oder den Versuch, diese zu bekommen, hätte vorweisen können. Es sagt auch aus, dass Anton vorbestraft gewesen sei. Darum müsse Anton zum Schutz der öffentlichen Sicherheit zwangsuntergebracht werden. Viele andere Männer wurden mit der gleichen Begründung nach Herzogsägmühle eingewiesen.

Im Führungsbogen sowie einer Karte an den Anstaltsleiter wird als Art des Zugangs „freiwillig“ angegeben. In seinem Lebenslauf schreibt Anton jedoch, dass er von der DAF eingewiesen wurde. Auch zeichnet sein Lebenslauf keine Vorstrafen auf und aus seinem Arbeitsbuch lässt sich erkennen, dass Anton bis zum Tag seiner Einweisung bei der Milcherzeugnis-Firma Linke und Co. in Schongau beschäftigt war. Er war also weder vorbestraft noch ohne Arbeit. Die „Freiwilligkeit“ im Führungsbogen kann man als vorgeschobenes Argument verstehen, welches die Zwanghaftigkeit der Einweisung verschleiern soll.

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Vertiefung: Das „Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz" von 1926

Das schon 1926 von der bayerischen Landesregierung verabschiedete „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“ war von Grund auf rassistisch motiviert und richtete sich hauptsächlich gegen Sinti und Roma, welchen nachgesagt wurde, dass sie keiner geregelten Arbeit nachgehen wollen, sondern stattdessen durchs Land fahren würden. Es war reichsweit das erste Gesetz, welches den Begriff „Zigeuner“ rassistisch definierte und diente als Vorbild für die anderen Länder.

Das Gesetz schränkte das „Umherzieren“ der zentral überwachten Menschen stark ein und sah vor, „Zigeuner und Landfahrer im Alter von mehr als 16 Jahren, die den Nachweis einer geregelten Arbeit nicht zu erbringen vermögen“ in Arbeitsanstalten zwangseinzuweisen (Art. 9).

Neben den stark stigmatisierten Sinti und Roma, ist in dem Gesetz von anderen „asozialen Menschengruppen“ die Rede. Dies diente zur Verschiebung des Problemdiskurses von einer rassenbiologischen in eine kulturpolitische Auffassung. „Landfahrer“ und „Arbeitsscheue“ wurden so zu Begriffen, die über die Gruppe der Sinti und Roma hinausgehen sollten.

Das frühe Angehen der „Zigeunerfrage“ und das „Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz“ als wichtiges Instrument half den Nationalsozialisten, ihre rassistische Politik zu begründen und zu intensivieren.

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Aufgabe (Vertiefung)

  1. Schildern Sie, welche Gruppen das „Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz” betraf und mit welchen Mitteln sie ausgegrenzt wurden.
  2. Analysieren Sie, inwiefern das Gesetz schon 1926 die spätere NS-Politik der Ausgrenzung, Stigmatisierung und Verfolgung vorbereitete.
  3. Erörtern Sie, ob in der heutigen Gesellschaft bestimmte Gruppen durch ihre Lebensweise stigmatisiert sind. Diskutieren Sie, welche Rolle rassistische Diskurse dabei spielen.

Ein Aus für die Selbstbestimmung: Anton Leistle in Herzogsägmühle

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In den Akten von Anton finden sich keine Selbstzeugnisse. Außer dem selbstgeschriebenen Lebenslauf, welcher nach strikter Anleitung verfasst wurde, gibt es keine Briefe, Texte, Bilder oder ähnliche Dinge, aus denen wir mehr über Anton erfahren können. Das wichtigste Dokument, aus dem wir Informationen beziehen können ist also der Führungsbogen. Dieser gibt uns zwar viele Informationen, muss aber vorsichtig behandelt werden, denn er wurde von Tätern und Täterinnen geschrieben. Einträge beschränken sich auf Antons Arbeitsleistung und seinen zugeschriebenen Geisteszustand. Er zeigt also nicht, wer Anton war und wie er sich wirklich vor Ort verhielt, sondern wie das nationalsozialistische Gesundheitssystem des Zentralwanderhofs funktionierte und wie es Personen wie Anton innerhalb dieses Systems einordnete.

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Der Führungsbogen

Der Führungsbogen dokumentierte generelle Angaben zur Person, wie das Geburtsdatum, Aussehen, oder den Grund der Einweisung. Er enthielt auch Angaben aus den Untersuchungen eines Anstaltsarztes, der Arbeitsfähigkeit und den Gesundheitszustand dokumentierte, sowie die Ergebnisse aus psychologischen Untersuchungen. Diese Schreiben bewerteten die Arbeitsfähigkeit und wurden von Befunden über vor Ort erbrachten Arbeitsleistungen begleitet. Kleinste Vergehen gegen die strenge Hausordnung sahen verschiedenste Strafen vor. So konnten Insassen wie Anton mit Taschengeldentzug, Entzügen der ohnehin stark rationierten Versorgung, oder Arresten rechnen. Viele der Betroffenen waren unterversorgt und dementsprechend hungrig.

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§

Hier finden Sie die zweite Seite von Antons Führungsbogen. Auffällig ist, wie schnell sich Antons beschriebener Zustand verändert.

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Antons Bewertungen fielen anfangs positiv aus und ihm wurde bei seiner Einweisung am 14. Januar 1941 eine „uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit” bescheinigt. Im Laufe seines Aufenthalts fielen die Bewertungen über seinen Geisteszustand und sein Benehmen immer negativer aus und ihm wurde schon am 28. Januar, zwei Wochen nach seiner Einweisung, ein „geistiger Defekt” zugeschrieben. Die Begründung war vage, Anton habe sich oft mit „unklaren Anfragen” an die Hausleitung gewandt. Ende April 1941 wurde ihm dann eine Schizophrenie angelastet. Dies war eine gängige Diagnose im Zentralwanderhof, die die Insassen als „geistig defekt” abstempelte. Anders als heute bedeutete dies keine medizinische Diagnose, auf die eine zielführende Therapie aufgebaut werden sollte, sondern beschrieb sozial unerwünschtes Verhalten und bedeutete schwere Konsequenzen für die betroffene Person.

Auch Antons Arbeitsmoral wurde immer schlechter beschrieben. So wird er als „in der Arbeitsleistung sehr unbeständig“ beschrieben, und dass er oft „von der Arbeit weg“ bleibe. Diese negativen Beschreibungen von Antons Arbeitsmoral sind sehr verwunderlich, wenn man sich seine früheren Arbeitszeugnisse anguckt. Ein früherer Arbeitgeber schreibt, dass Anton „durch Treue, Ehrlichkeit und Fleiß die Zufriedenheit erworben“ habe. Andere Arbeitgeber beschreiben ihn auch als fleißig und ehrlich und bestätigen, dass sie mit Anton als Mitarbeiter sehr zufrieden waren. Wir können heute nicht sagen, wie Anton sich verhalten hat. Klar ist aber, dass er als gelernter Käser auf dem Bau arbeiten musste, und höchstwahrscheinlich unterversorgt war. Auch wenn eine negative Einstellung zur Arbeit unter solchen Umständen nicht verwunderlich ist, ist der Führungsbogen kein Arbeitszeugnis, sondern ein Mittel, um Anton leichter in das NS-Gesundheitssystem einzuordnen und die fragwürdigen Diagnosen zu begründen.

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Aufgabe (Basis)

  1. Anton wurde als „geistig defekt" und „schizophren" beschrieben. Erläutern Sie, welche Haltung oder Bewertung diese Begriffe transportieren. Ermitteln Sie, welchen Einfluss solche Beschreibungen darauf haben, wie Ärzte, Personal und Gesellschaft Anton sehen.
  2. Nennen Sie Beispiele von Begriffen, die heute für Menschen mit psychischen Erkrankungen genutzt werden. Diskutieren Sie, ob diese Begriffe, neutral, abwertend oder aufwertend wirken. Entwickeln Sie für Ihre Beispiele eine wertschätzende Formulierung.

Hoffnung auf Rettung? Ein Brief von der Leitung an den Bruder

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Als Antons Unangepasstheiten zu einem Problem wurden, verfasste die Anstaltsleitung am 27. März 1941 einen Brief an einen Bruder namens Walter Leiste. Die Insassen von Herzogsägmühle hatten selbst kaum die Möglichkeit, Kontakt zu ihren Familien oder Bekannten aufzubauen. Der Brief beschreibt, dass sich Antons Geisteszustand verschlechtert habe und erkundigt sich nach psychischen Vorerkrankungen, als „gedankliche Abirrungen“ oder „Geisteskrankheit“ beschrieben. Auch wird von der Unangepasstheit an die ungewohnte Arbeit auf dem Bau geredet, und dass Anton angeblich danach fragte, in eine nicht vorhandene Käserei versetzt zu werden. Vor allem erkundigte sich der Brief danach, ob Anton nicht bei seinem Bruder unterkommen könne, da er bei der Familie besser aufgehoben sei. So entstand für Anton eine Möglichkeit, den Zentralwanderhof verlassen zu können.

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Am 2. April antwortete ein Franz Leistle auf den Brief der Anstaltsleitung. Es ist unklar, ob Anton überhaupt einen Bruder namens Walter hatte, denn in seiner Akte sind nur zwei ältere Geschwister verzeichnet: Franz, der auf den Brief antwortete, ein landwirtschaftlicher Arbeiter, und Konstantin, der eigentlich als Schreiner aber zu der Zeit als Soldat tätig war.

Franz antwortete zwar auf den Brief aber seine Antwort war negativ. Er könne seinen Bruder nicht bei sich auf dem Hof aufnehmen, da Anton nicht für landwirtschaftliche Arbeit zu gebrauchen sei und Franz selber über kurz oder lang als Soldat einberufen werden würde. Er riet stattdessen, Anton bei einem Käsemacher unterkommen zu lassen, also in einem Bereich zu arbeiten, in dem Anton sich wohler fühlen würde. Psychische Krankheiten in der Familie verneinte er und erklärte das auffällige Verhalten, welches die Anstaltsleitung beschrieb, mit einem Motorradunfall, den Anton vor 7 Jahren gehabt hatte. Er schrieb: „Seit der Zeit stimmt es nicht mehr recht bei ihm.“

Hätte Franz Anton bei sich aufgenommen, hätte er das Zwangssystem vermutlich verlassen können.

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Abschrift des Briefes von Franz Leistle an die Anstaltsleitung vom 02. April 1941

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Aufgabe (Basis)

  1. Analysieren Sie, welche Gründe Franz Leistle in seinem Brief für die Ablehnung einer Aufnahme seines Bruders nennt, und analysieren Sie, inwiefern seine Argumente die NS-Ideologie reflektieren.
  2. Beurteilen Sie, inwieweit Franz durch seine Absage Mitverantwortung für Antons weiteres Schicksal trägt. Diskutieren Sie, inwiefern Franz Leistle in dieser Situation eine echte Entscheidungsfreiheit hatte und wie gesellschaftlicher Druck im NS-Staat seine Handlungsspielräume beeinflusst hat.
  3. Untersuchen Sie, welche Rolle die fehlenden direkten Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Anton und seiner Familie für seine Chancen auf Entlassung gespielt haben.

Anton in Eglfing-Haar

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Nachdem sein Bruder ihn nicht bei sich aufnahm und sein Führungsbogen immer negativer ausfiel, wurde Anton nach knapp 7 Monaten, am 22. August 1941 in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar überstellt. Eglfing-Haar war die größte dieser Anstalten in Bayern, wo Menschen wie Anton mit (zugeschriebenen) geistigen und körperlichen Behinderungen ermordet wurden. Dies geschah zum Beispiel durch gezieltes Vernachlässigen, Verhungern, oder eine tödliche Medikamentengabe. Antons Todesursache ist, wie vieles aus seiner Zeit im NS-Gesundheitssystem unklar. Auch in Eglfing-Haar wurde eine Akte über ihn angelegt, die wenig Aufschluss darüber gibt, wie es ihm in der Anstalt wirklich ergangen ist.

Einträge in dieser Krankenakte wurden unregelmäßig getätigt und fielen, ähnlich wie die Berichte aus dem Zentralwanderhof, abwertend aus. Anton wurde so 1943 als „Interessen- und affektlos“ oder „ohne Initiation, stumpf“ beschrieben. Fast zwei Jahre später, am 19.05.1945 gab es einen Eintrag in die Krankenakte. Dieser beschreibt Anton als „stark abgemagert.“ Einen Tag später wurde sein Tod festgestellt. Die offizielle Todesursache: „eitrige Bronchitis. Phlegmone des rechten Oberschenkels.“ Was auffällig ist, ist der schnelle Krankheitsverlauf. Die erste Aufzeichnung der Symptome einen Tag vor dem Tod spricht dafür, dass Anton Opfer der NS-„Euthanasie“ wurde. Er wurde nur 37 Jahre alt.

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Aufgabe (Basis)

  1. Reflektieren Sie, welche Faktoren dazu führten, dass Anton im NS-Gesundheitssystem entrechtet und schließlich ermordet wurde. Gehen Sie dabei sowohl auf das Handeln einzelner Personen als auch auf die Strukturen des NS-Staates ein.
  2. Analysieren Sie, wie Antons Leben zeigt, dass „Arbeitstüchtigkeit“ im NS-Staat über den Wert eines Menschen entschied. Vergleichen Sie dies kritisch mit heutigen gesellschaftlichen Leistungsnormen.
  3. Bewerten Sie, wie das Fehlen von Selbstzeugnissen (z. B. Briefe, Tagebücher, Fotos) unseren Blick auf Anton beeinflusst.
  4. Analysieren Sie, inwiefern Täterakten nicht nur Fakten dokumentieren, sondern auch die Perspektive und Ideologie der NS-Medizin transportieren. Bewerten Sie, wie wir mit Täterakten umgehen können.
  5. Stellen Sie dar, wie Antons Geschichte uns helfen kann, über heutige Konzepte von Menschenwürde, Teilhabe und Inklusion nachzudenken.